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Archiv-Artikel

Die Lebenden und die Toten

In Deutschland werden Juden nach wie vor behandelt, als seien sie Fremde. An jedem 27. Januar wird an Auschwitz erinnert. Aber wem hilft das? Vorschlag für einen Denktag

von CHRISTIAN SCHNEIDER

Dass in diesem eben begonnenen Jahr in Deutschland weniger über Antisemitismus geredet werden wird als 2002, ist zu hoffen, aber keineswegs prognostizierbar. Todsicher dagegen ist die Vorhersage, dass das Gedenken an jene, die seine Opfer wurden, Teil der hoch ritualisierten Trauerroutine bleiben wird, die manche für das moralische Fundament der Bundesrepublik halten.

Jahr für Jahr verwandelt sich unsere Wissensgesellschaft für einige Tage in eine trauerbereite Gewissensgesellschaft und verkündigt den Primat des Gedenkens über das Denken. Denn dieses, so will es der common sense, gehört den Lebenden, das Gedenken hingegen den Verstorbenen. Mit der wiederkehrenden Inszenierung des Schreckens holt uns die Frage ein: Wäre es möglicherweise umgekehrt besser?

Der seit einigen Jahren feierlich begangene 27. Januar, der an das Konzentrationslager Auschwitz erinnert, darf dabei im doppelten Sinne als Glücksfall gelten. Als Datum der Befreiung gibt er Anlass, nicht nur der Toten, sondern eben auch derer zu gedenken, die überlebt haben. Sein weitaus etablierteres Pendant, der 9. November, hat das Pech, sich in den Trauermonat November einreihen zu müssen. Die katholischen Feste Allerheiligen und Allerseelen, der evangelische Totensonntag und der staatliche Volkstrauertag: Sie alle konfrontieren uns mit dem Memento mori, der Erinnerung an die Opfer zweier Weltkriege, mit Schuld und historischer Verantwortung, sie alle fordern Trauer gegenüber den Verstorbenen ein.

Auch die Rhetorik des 9. November stellt sie ins Zentrum des Gedenkens, aber noch offenkundiger als an den anderen Feiertagen wird in der öffentlichen Deklamation ihr Scheitern deutlich. Warum? Aus zwei Gründen: Weil es an diesem Tag nicht um Tod und Verstorbene, sondern um Mord und Ermordete geht. Und weil die Opfer, die es zu beklagen gilt, anders als die der Weltkriege, in diesem Land mehrheitlich nach wie vor nicht als Teil des kollektiven Selbst empfunden werden.

In der Erinnerung an den ersten großen Pogrom, Auftakt zur systematischen Judenvernichtung, kommt im Kultus des Gedenkens ein tabuierter Kern des deutsch-jüdischen Dialogs zum Vorschein. Oder, schärfer formuliert, eine gut gemeinte Lüge, die sich durch die Geschichte der Bundesrepublik schleppt und im Laufe der Zeit ihre Form verändert hat.

Am Anfang steht ein wissenschaftlicher Bestseller. Ende der Sechzigerjahre diagnostizierten Alexander und Margarete Mitscherlich in einem der wichtigsten Bücher der noch jungen zweiten Republik eine spezifisch deutsche „Unfähigkeit zu trauern“, den kollektiven Ausfall an Einfühlungsvermögen gegenüber den Opfern der nationalsozialistischen Gewalt. Seither ist der psychoanalytische Terminus der „Trauerarbeit“ unverzichtbarer Teil der Gedenkrhetorik geworden.

Eine Verständigung darüber freilich, was das eigentlich sei und wie kollektive Trauerarbeit aussehen könnte, ist überraschenderweise ausgeblieben. Dabei ist der Terminus „Trauerarbeit“ bei Freud einfach und klar umrissen. Sie besteht darin, die emotionale Besetzung eines durch den Tod verlorenen Objekts Stück für Stück von ihm abzuziehen, damit die Realität des Verlusts anzuerkennen und das Ich aus einer realitätswidrigen Bindung zu lösen. „Tatsächlich“, so Freud, „wird das Ich nach der Vollendung der Trauerarbeit wieder frei und ungehemmt.“

Die unabdingbare Voraussetzung für Trauer aber ist der schmerzhaft empfundene Verlust eines Objekts, das so sehr ins eigene Leben integriert, so sehr dessen Teil geworden ist, dass sein Verschwinden das Gefühl einer Verarmung auslöst: „Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden.“ Dass die Deutschen nach 1945 ihre zerbombte Welt als „arm und leer“ erfuhren, ist ebenso Realität wie die Tatsache, dass die Vernichtung der Juden mehrheitlich nicht als Verlust empfunden wurde.

Das Ausbleiben einer Trauerreaktion ihnen gegenüber ist psychologisch letztlich so wenig verwunderlich wie die Tendenz, die eigene emotionale Beteiligung am Nationalsozialismus zu leugnen. Die Mitscherlichs machen ausdrücklich darauf aufmerksam, dass der Versuch, die NS-Vergangenheit zu de-realisieren, einer unvermeidlichen psychischen „Notfallreaktion“ gleichkam und infolgedessen „die moralische Pflicht, Opfer unserer ideologischen Zielsetzung mit zu betrauern (…), für uns vorerst nur ein oberflächliches seelisches Geschehen bleiben“ konnte.

Moralisch richtig, aber psychologisch überraschend ist ihr Urteil: „Problematisch ist erst die Tatsache, dass (…) auch später keine adäquate Trauerarbeit um die Mitmenschen erfolgte, die durch unsere Taten in Massen getötet wurden.“ Dies setzte, da Trauer nicht erzwungen werden kann, voraus, dass das ausgebliebene Verlustgefühl nachträglich in authentischer emotionaler Weise erfahrbar geworden sei.

Tatsächlich ist dies bis zu einem gewissen Grade in einer zeitlich verlagerten Reaktion geschehen. Erst für die Töchter und Söhne der Täter wurde der Verlust in einer Weise fühlbar, die ihre Eltern vermieden hatten. Viele fühlten sich genötigt, stellvertretend Schuld zu übernehmen. Zum Grundgefühl dieser Generation zählen eine tiefe Scham gegenüber den eigenen Eltern und der Wunsch, sich von diesem schuldbeladenen Ursprung abzukoppeln.

Gerade die politisch bewussten Angehörigen der Achtundsechzigergeneration identifizierten sich mit den Opfern der Väter, insbesondere mit den Juden. In die Anklage gegen die Eltern mischte sich der Wunsch nach Wiedergutmachung und Ungeschehenmachen. Nicht zufällig tragen viele Kinder der auf die Täter folgenden „zweiten Generation“ Namen wie David und Benjamin, Lea und Judith.

Der psychosoziale Kern dieser politischen Generation besteht in einer hysterischen Identifikation mit den Ermordeten – und dem damit verknüpften Anspruch, in ihrem Namen anklagend das Wort zu ergreifen. Man könnte, in Analogie zur Analyse der Mitscherlichs, bei diesem Mechanismus von einer „moralischen Notfallreaktion“ sprechen, die notwendig wurde, um nicht von der gefürchteten Last einer mörderischen Erbschaft erstickt zu werden.

Von heute aus gesehen besticht die generationengeschichtliche Logik des Vorgangs. Für die Entwicklung der politischen Kultur der Bundesrepublik war diese (Gegen-) Identifizierung zweifellos eine sozialpsychologisch notwendige Passage, für die sie tragende Generation und ihre Nachkommen impliziert sie noch wenig begriffene Folgen. Der von ihr demonstrativ gelebte, hoch ritualisierte und gegen Selbstreflexion abgeschirmte Philosemitismus ist das vielleicht offenkundigste Beispiel. Die persönliche Aufladung der historischen Schuld zum Gestus der Dauerbetroffenheit und das Schwelgen in der „erborgten“ Schuld gehören ebenso zum festen Repertoire dieser Generationsgestalt wie der aus der Opferidentifikation hergeleitete Anspruch einer unangreifbaren moralischen Überlegenheit.

Seitdem die zweite Generation zur staatstragenden aufgerückt ist, macht sich diese Selbstgewissheit auf allen Ebenen bemerkbar. Dass mittlerweile Kriegseinsätze mit Auschwitz begründet werden, ist problematisch genug: schlechterdings peinlich jedoch, wenn der Erfinder dieser Argumentation, der deutsche Außenminister, sie als „historische Lehre“ seiner Generation implizit mit seiner persönlichen Lebenserfahrung und der Maxime „Nie mehr Opfer sein“ in Verbindung bringt.

Am drastischsten zeigt sie sich jedoch im deutsch-jüdischen Dialog. Seit dem Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus ist er aufgrund der unvermeidlichen Ambivalenz des Verhältnisses durch das unfreiwillige Zusammengehen von Gesten moralischen Goodwills und Fehlleistungen geprägt, die sich bekanntlich besonders gerne an Gedenktagen äußern. Die berühmte Rede des vormaligen Bundestagspräsidenten zum 9. November des Jahres 1988 ist der Prototyp der Fehlleistung, die sich aus der Gedenkkultur der alten Bundesrepublik ergab. Philipp Jenninger sagte im Kern lauter Richtiges über die Gefühle und das Verhalten der Deutschen nach 1933 – und traf den falschen Ton. Er war der falsche Sprecher, unfreiwillig noch mit dem identifiziert, was er als kritischen Tatbestand benennen und denunzieren wollte. Bekanntlich hielt Ignatz Bubis die berühmt gewordene Rede kurze Zeit später wortgetreu vor einem anderen Publikum – und wurde mit Beifall überschüttet. Ein besseres Experiment zur Messung des Philosemitismus hat bislang noch kein Sozialpsychologe ersonnen.

Einiges deutet darauf hin, dass sich mit dem generationellen Transformationsprozess die Art der Fehlleistung verändert hat. Die mit zwei Namen verknüpfte Antisemitismusdebatte des vorigen Sommers zeigt neue Kontur. Auf der einen Seite beweist die Affäre Möllemann – der misslungene Versuch, aus dem antisemitischen Ressentiment Kapital zu schlagen – die gewachsene Selbstverständlichkeit, mit solchen Zumutungen umzugehen: Es konnte keine nüchternere Antwort geben als die der Wähler am 22. September.

Die Debatte um Martin Walsers Buch „Tod eines Kritikers“ hingegen erfolgte weitgehend im Ton jener aus der Opferidentifikation folgenden Supermoral, die mittlerweile den Ton des neuen Gedenk- und Trauerdiskurses bestimmt. Es ist erschreckend, wie eilfertig und mit welch teilweise mehr als dürftigen Argumentationen Walser Antisemitismus „nachgewiesen“ wurde. Dass dabei den Kritikern mitunter groteske Interpretationsleistungen unterliefen, ist ein Fingerzeig darauf, wie sehr die Logik der Gegenidentifizierung die Rationalität des Diskurses angegriffen hat.

Die aufgenötigte „moralische Notfallreaktion“ der Täternachfahren erweist sich als ähnlich problematische Verhaltensgrundlage wie jene von den Mitscherlichs konstatierte psychische Notfallreaktion ihrer Eltern. Wahrscheinlich ist das schrecklichste Erbe der Tätergeneration die nach 1933 systematisch eingeübte und später nie aufgehobene Einstellung, die Juden als Fremde zu sehen: Sie war die Grundlage der Unfähigkeit zu trauern.

Die Gegenidentifizierungen ihrer Nachfahren laufen darauf hinaus, die Imago des Fremden in sich aufzunehmen und daraus in problematischer Weise „das Innerste“ zu machen. Mittlerweile wird die unausweichliche Ambivalenz dieser ausgeschlagenen und in der Negation doch angenommenen Erbschaft deutlich. Sie zeigt sich unter anderem darin, dass die Kinder der Nazis mit den Nachfahren ihrer Opfer unbewusst um die Tiefe des Gedenkens, die Authentizität der Trauer und die Legitimität des Schmerzes konkurrieren.

Die moralische Notfallreaktion der zweiten Generation hat eine nachträgliche Trauer oder zumindest einen traueranalogen Prozess in Gang gebracht, der von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung zivilgesellschaftlicher Verhältnisse in Deutschland war. Heute sind daraus Formen ritualisierter moralischer Selbstvergewisserung entstanden, die wert wären, ähnlich infrage gestellt zu werden wie seinerzeit die Trauerunfähigkeit der Tätergeneration.

Es wäre zum Beispiel wert darüber nachzudenken, was das nahe endgültige Verschwinden der Tätergeneration für uns Nachfahren bedeutet. Welche Bedeutung hat ihr Tod für unsere neuerdings so stolz präsentierte Fähigkeit zu trauern? Was meinen wir eigentlich, wenn wir, jenseits der quasikreatürlichen Reaktion auf einen einschneidenden persönlichen Verlust, von Trauer und Trauerarbeit reden?

Es gibt, gerade wenn wir uns um das Gedenken sorgen, viel Anlass zum Denken. Vielleicht ist das Beste, was wir mit Gedenktagen wie dem 9. November machen könnten, sie nicht aus der Logik der Wissensgesellschaft herauszunehmen, sondern sie ihr explizit zu unterstellen. Der Historiker Ulrich Herbert hat darauf hingewiesen, wie lückenhaft das historische Wissen deutscher Politiker über den Nationalsozialismus ist. Man sollte nicht vergessen: Selbst die Qualität des Gewissens ist von Wissen abhängig – nicht nur dem historischen, sondern vor allem von psychologischem Wissen – und der Fähigkeit zur Einfühlung.

Denn nur, wenn die Anerkennung der geschichtlichen Realität sich mit der Fähigkeit zur Selbstreflexion verbindet, wird es möglich werden, den Transformationsprozess der Unfähigkeit zu trauern im Wechsel der Generationen zu verstehen. Das wird nötig sein, um den Übergang zur nachfolgenden zu begleiten, für die der Nationalsozialismus endgültig Geschichte geworden ist: einen Übergang, der ihr womöglich etwas von den Nöten und Verwirrungen ersparen könnte, an der die Kerngeneration der neuen Berliner Republik bis heute krankt.

Es wäre ein entscheidender Schritt, wenn wir das Verhältnis von Denken und Gedenken in diesem Punkt gegen den landläufigen Sinn umkehren könnten: wenn wir lernen könnten, Auschwitz zu denken – und das Gedenken, die Mobilisierung von Gedächtnis, der nachfolgenden Generation zu widmen. Es wäre zugleich die Voraussetzung dafür, das genealogische Verwirrspiel, die babylonische Sprachverwirrung um den Begriff der Trauer einer neuen Reflexion zugänglich zu machen.

CHRISTIAN SCHNEIDER, Jahrgang 1951, Soziologe und Forschungsanalytiker, lebt in Frankfurt am Main. Im Psychosozial-Verlag (Marburg 2002) ist sein Buch „Identität und Macht. Das Ende der Dissidenz“ erschienen