Verstoßener Handschuh

Bislang waren Geschichtsdokus mit Spielszenen – den berühmten „Reenactments“ – weit verbreitet. Jetzt besinnen sich Sender und Dokfilmer wieder mehr auf Archivmaterial und authentische Orte

„Mätressen, die in billigen Kostümen über Wiesen huschen, will keiner mehr sehen“

VON WILFRIED URBE

Gunnar Dedio kann zufrieden sein: Sein „Hitler und Mussolini“ brachte der ARD diesen Sommer nicht nur 9,5 Prozent Marktanteil – ein ungewöhnlich gutes Ergebnis für eine historische Doku. Der Film wurde auch in 15 Länder verkauft.

Dabei schwimmt „Hitler und Mussolini“ in der Machart in Dedios eigenen Worten „komplett gegen den Strom“: Es gibt weder Zeitzeugen oder Experten noch die in jüngerer Zeit bei Dokus so beliebten inszenierten Spielszenen, im Fachjargon Reenactments. Stattdessen besteht der neunzigminütige Film ausschließlich aus Archivmaterial und dokumentarischen Bildern an für die Begegnungen von Hitler mit Mussolini bedeutungsvollen Orten aus der Jetztzeit.

Eigentlich schien die Zeit vorbei, in der Dokumentationen im Fernsehen vor allem aus solider Recherche und anschaulich vermittelten Fakten bestehen sollten. Denn seit den Neunzigerjahren mischte sich immer stärker die Fiktion in die Drehbücher: Kaum eine Geschichtsdokumentation, in der nicht die berühmte lederbehandschuhte Hand ein Dokument unterschrieb. Eine Manier, dem Publikum geschichtliche Zusammenhänge schmackhaft zu machen – die oft daherkam wie in den Romanzen und Intrigen der B-Movies. Natürlich gibt es auch qualitativ hochwertige Reenactments: Bei der BBC investierten die Verantwortlichen auch schon mal zweistellige Euro-Millionenbeträge, um beispielsweise das Leben des „Dschingis Khan“ als „TV-Event“ ins Fernsehen zu bringen.

Doch das Geld wird zusehends knapper, und so erlebt die klassische Dokumentation ein Comeback. Bereits Anfang des Jahres brachte „Spiegel TV“ auf Vox eine dreieinhalbstündige Chronik des Dritten Reichs, am Samstagabend zur besten Sendezeit. „Es gab keine Zeitzeugen, nur das Originalmaterial, das von den Historikern durch ihre Kommentare strukturiert wurde“, sagt Autor Michael Kloft, neben dem ZDF-Geschichtsprofessor Guido Knopp einer der einflussreichsten der Branche. Aus seiner Sicht genau das Richtige für den Samstagabend: „Nicht zu anspruchsvoll und nicht zu unterhaltend – etwas für die, die auf den anderen Sendern nichts Interessantes finden konnten“, so Kloft. „12 Jahre, 3 Monate, 9 Tage – Die Jahreschronik des Dritten Reichs“ lautete der offizielle Titel, „eine Art Test“ sei das gewesen, sagt der Leiter der Abteilung „History“ bei „Spiegel-TV“ – ein Test, der gelang. Sogar in der jungen Zielgruppe der 14- bis 49-Jährigen hatte die Sendung einen achtbaren Marktanteil von 7,9 Prozent

Die Wiederkehr der klassischen Dokumentarfilme ist nicht nur auf Deutschland beschränkt. Auch bei belgischen und schweizerischen Sendern zeige sich beispielsweise „eine Übersättigung, was Dokumentationen mit Reenactments angeht“, sagt Bettina Oebel vom öffentlich-rechtlichen Programmvertrieb German United Distributors. Auch in anderen Ländern beobachte sie eine strengere Trennung der Sendeplätze nach Produktionen mit Archivmaterial oder Reenactments, beispielsweise in Spanien oder den USA. „Eine große Nachfrage besteht nach Produktionen mit möglichst viel Archivmaterial, etwa bei Themen im 20. Jahrhundert.“ Das habe damit zu tun, dass das Archivmaterial mit neuen technischen Möglichkeiten aufgewertet werden könne und den Zuschauern eine ganz neue visuelle Qualität biete, so Oebel.

Vorreiter für diese Entwicklung war auch hier die BBC. „In England möchte man zurzeit möglichst viel authentisches Material zeigen“, sagt Bo Stehmeier, Verkaufsleiter bei Off the Fence, einem internationalem Dokumentarfilmvertrieb mit Hauptsitz in Amsterdam. „Es muss echt wirken, im Stil einer Reportage. Nachgestellte Szenen sind zurzeit weniger gefragt.“ Stehmeier verweist vor allem auf den wirtschaftlichen Hintergrund: „Dokudramen mit vielen Spielszenen sind sehr teuer und müssen daher hohe Einschaltquoten bringen – was dann auch noch höhere Marketingkosten mit sich bringt.“ Das Risiko solcher Projekte sei enorm, so Stehmeier. Denn schließlich sei das TV-Geschäft heute riskanter denn je, „da immer mehr Menschen dem Fernsehen als Publikum verloren gehen“.

Die klassische Doku dagegen sei meist günstiger zu produzieren. Auch die BBC hat sich nicht aus rein stilistischen Gründen umorientiert: Mindestens 10 Prozent pro Jahr müssen die BBC-Budgets wegen einer geringer als erhofft ausfallenden Rundfunkgebührenanpassung bei der „Mutter aller Sender“ schrumpfen. Diesen Sparkurs bekommen gerade die Dokumentarfilmer zu spüren: „Die Situation für die Branche in England ist schlimm“, sagt Julie Lewis von der Archiv-Recherche-Firma Focal International.

Dass das Dokudrama mit hohem szenischen Anteil international seinen Höhepunkt überschritten hat, spürt auch Kristina Hollstein vom ZDF-Programmvertrieb ZDF Enterprises, der allerdings immer noch gut mit den in Fachkreisen alles andere als unumstrittenen Stoffen von Chefgeschichtler Guido Knopp fährt. „Dennoch werden Dokudramen beziehungsweise Dokumentationen mit szenischem Anteil weiter eine wichtige Rolle spielen“, meint Hollstein.

Und hier hat sie einen Verbündeten in Michael Kloft: „Ich bin kein Gegner von Reenactments, sie müssen nur gut gemacht sein. Mätressen, die in billigen Kostümen über Wiesen huschen, will keiner mehr sehen.“