: Die Demoiselle der Demi-Monde
„Nur ein paar Augen sein“ im Bremer Modersohn-Becker Museum ist eine Hommage an Jeanne Mammen. Mit ihren selbstbewussten Frauengestalten war sie die ebenso luftig-leichte wie präzise Chronistin der Halbwelt der 20er. Erstmals ist auch das Frühwerk der 1976 verstorbenen Künstlerin zu sehen
Von Henning Bleyl
„Vor dem Auftritt“ war hinter den Bühnen der Berliner Cabarets offenbar einiges los. Frau räkelt und schminkt sich, und mittenmang, zwischen den lasziven Tänzerinnen und sonstigen Actricen, sitzt Jeanne Mammen und malt. So stellt man sich die Szene vor, wenn man Mammens gleichnamiges Aquarell von 1928 anguckt, den optischen Headliner der aktuellen Bremer Mammen-Schau.
„Nur ein paar Augen sein“ im Paula Modersohn-Becker Museum widmet sich einer Künstlerin, die 1976 in ihrer kleinen Atelierwohnung hoch über dem Ku‘damm starb, ihre beste Zeit jedoch in den späten Zwanzigern hatte. Da entstanden die luftigen, manchmal fast verwischt wirkenden Zeichnungen, die ihre Sujets nichtsdestoweniger mit sehr präzisem Strich charakterisieren: die Damen der Halbwelt ebenso wie die der Hautevolée auf dem Rennplatz. Zumeist geht es Mammen um die Gestalt der „Neuen Frau“, die sich in der Weimarer Zeit selbstbewusst in allen möglichen Sorten von öffentlichen Orten tummelt.
Nichtsdestoweniger war eine Demoiselle wie Fräulein Mammen, die sich mit ihrem Skizzenblock dermaßen ausgiebig in der Demi-Monde herumtrieb, eine ungewöhnliche Erscheinung – und dass sie von ihrer Kunst sogar leben konnte, ein entscheidender Unterschied zu den Malerinnen der Generation zuvor. Mammen wuchs in Paris auf und studierte an der Académie Julian, wo sie sich sozusagen mit Paula Modersohn-Becker die Klinke in die Hand gab.
Als das weltweit erste einer Künstlerin gewidmete Haus ist das Modersohn-Becker Museum ein guter Ort für die Mammen-Schau. Hier wird nun erstmals auch ihr Frühwerk gezeigt, darunter die Skizzenbücher: Man blättert sich digital durch die etwa 500 Studien – und staunt über deren absolut frisch wirkende Farben. Eine konservatorische Gnade der späten Wiederentdeckung in den 90ern.
Zu Mammens Frühwerk gehören auch die Brüsseler Bilder: Ein bisschen Décadence, nachgeschleppte Fin de Siècle-Stimmung, Symbolismus: Aus dieser Mischung entstehen phantastisch farbige und frivole Kompositionen wie der Kuss der „Sphinx“, der durchaus als Vorfahr asiatischer Comic-Literatur durchgehen würde. Mammens Ortswechsel haben unmittelbare Auswirkungen auf ihre Kunst. Als 24-Jährige muss sie aus Frankreich fliehen, wo bei Beginn des Ersten Weltkriegs alle Deutschen interniert werden. Ihre Familiengeschichte – das gesamte Vermögen der Mammens wird vom französischen Staat als Kriegsentschädigung versteigert – zwingt Mammen zu der Art von künstlerischer Produktion, mit der sie später ein großes Publikum erreicht: Sie zeichnet und malt für den boomenden Zeitschriftenmarkt. „Endlich heraufgearbeitet zum ,Simpl“, schreibt sie als 80-Jährige in einem knappen Lebensrückblick.
Neben dem „Simplicissimus“ drucken auch der „Uhu“, das populäre Magazin des Ullstein-Verlages und diverse Modezeitschriften wie „Die Dame“ Mammens Zeichnungen. Selbst Tucholsky fühlt sich zu einer „Liebeserklärung“ inspiriert: Mammens „anmutige und herbe Figuren“ überragten „das undisziplinierte Geschmier der meisten Ihrer Zunftkollegen“. Nichtsdestoweniger ist Mammens Selbstbild das einer „höchst unwichtige Eintagsfliege“ – mit heftigem Arbeitsdrang. „Schon als kleines Kind habe ich alles beschmiert, was mir in die Hände kam“, schreibt sie.
Nun hat man beim Durchwandern der Bremer Ausstellung nicht den Eindruck, noch nie Ähnliches gesehen zu haben. Aber während etwa Dix und Grosz ihrem zeichnerischen Sarkasmus freien Lauf ließen, impliziert das Mammen-Zitat „Ich will nur ein paar Augen sein“, das Kurator Frank Laukötter als Titel gewählt hat, eben auch den Verzicht auf eine moralische Position in Gestalt von Häme und Schärfe.
Allerdings verweist das Augen-Zitat auch auf die Scheu, selbst gesehen zu werden. Anders als für Modersohn-Becker war der Selbstakt oder auch nur das Selbstporträt für Mammen eben kein konstituierendes Moment ihrer Kunst – ganze drei hat sie gefertigt. Dafür kann man sich in Bremen umso ausgiebiger all den oft virilen und verwegenen Frauengestalten widmen, die ihrerzeit unter anderem als Illustration von Curt Morecks „Führer durch das lasterhafte Berlin“ erschienen. Die eindrucksvollste Werkgruppe der Ausstellung sind freilich die zart gehauchten Litographien zu Pierre Louys‘ „Lieder der Bilitis“, eine Hommage an lesbische Liebe. Das 1932 begonnene Mappenwerk kam wegen der NS-Machtübernahme nicht über den Status eines Probedrucks hinaus.
Es ist eine Tücke des Schicksals, dass kurz nach Mammens künstlerischem Durchbruch – Fritz Gurlitt richtet 1930 eine erste große Einzelausstellung aus – alle Strukturen zusammenbrechen, in denen sie ihre Arbeiten zeigen kann. Sie zieht sich ins Atelier zurück, wo sie sich unter höchst bescheidenen Umständen unter anderem mit Schusterarbeiten durchschlägt.
Bis 23. November im Modersohn-Becker Museum Bremen