: Diffamierung wird salonfähig
Berufspolitiker fürchten die Kritik und reden die Grundsatzfragen klein. Immerstärker bestimmen Pauschalurteile und Nebensächlichkeiten die Diskussion
„Die Leute“ haben es satt, dass „die Politiker“ die „drängenden Probleme unserer Zeit“ ignorieren. Und dass „die Parteien“ versagen. Ach, was heißt: die Parteien. Ganze Generationen! „Die Interessengruppen“ verhindern schließlich jeden Fortschritt. Deshalb wird „der Stillstand“ von manchen Publizisten und Politikern als so unerträglich empfunden, dass sie allen Ernstes zur Revolution aufrufen oder – hilfsweise – doch wenigstens dazu, Behörden für einen Tag telefonisch lahm zu legen.
Man mag diese Widerstandskämpfer drollig finden. Aber seit diffamierende Pauschalurteile, die früher als Stammtischgeschwätz gegolten hätten, zu Axiomen der veröffentlichten Mehrheitsmeinung geronnen sind, scheint mir der Hinweis angebracht zu sein, dass einige Unbelehrbare immer noch nicht gänzlich unzufrieden sind. Ich gehöre dazu.
Zum Beispiel habe ich die Tatsache keineswegs satt, dass meine Tochter kostenlos eine weiterführende Schule besuchen kann, die übrigens besser ist als ihr Ruf, und dass sie für eine solide Bildung nicht etwa an einem privaten Elite-Institut angemeldet werden muss. Auch halte ich es für erfreulich, dass es keines Mutes bedarf, um abends alleine nach Hause zu gehen, und keines privaten Wachdienstes, um sich in der eigenen Wohnung sicher zu fühlen. Dass die Feuerwehr kommt, wenn es brennt, und der Notarzt bei einem Herzinfarkt. Dass ich staatliche Stellen beim Verwaltungsgericht verklagen und den Prozess gewinnen kann. Dass trinkbares Wasser aus der Leitung fließt.
Das alles sei doch wohl das Mindeste, was man in einem reichen Industriestaat verlangen dürfe? Nun ja. Verlangen kann man viel. Gewährleistet sind diese Standards nicht einmal innerhalb der Europäischen Union.
Nach über zwanzig Jahren habe ich es noch immer nicht satt, Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung zu entrichten. Ich will Kindern den gesellschaftlichen Status ihrer Eltern nicht am Gebiss ansehen müssen. Sozialer Friede sichert auch denjenigen Lebensqualität, die eine Zahnklammer aus eigener Tasche bezahlen könnten. Ist er nachhaltig gestört, dann muss erfahrungsgemäß sogar die Mittelschicht höhere Zäune bauen. Darüber hinaus zahle ich meine Beiträge schon deshalb nicht ungern, weil ich die Prinzipien des Generationenvertrages und der Parität für sinnvoll halte und meine, dass sie in meinem Interesse liegen.
Durchaus möglich, dass diese Prinzipien in der hergebrachten Form nicht mehr zukunftsfähig sind: angesichts der demografischen Entwicklung, des medizinischen Fortschritts, der Verknappung von Arbeit und auch angesichts der Tatsache, dass die Kosten der deutschen Vereinigung leichtsinnigerweise zu einem großen Teil auf die sozialen Sicherungssysteme abgewälzt worden sind. Darüber ließe sich ja nüchtern reden. Aber von Sachlichkeit kann keine Rede sein. Stattdessen werden derzeit all diejenigen, die den Grundgedanken einer Solidargemeinschaft befürworten, regelmäßig erst einmal kräftig abgewatscht. Eine komplexe Frage wie die nach der gerechtfertigten Höhe von Sozialbeiträgen scheint von Hobbypsychologen als Einladung zur wohlfeilen Persönlichkeitsanalyse verstanden zu werden.
Wenn ich meine staatliche Kranken-, Arbeitslosen-, Pflege- und Rentenversicherung klaglos bezahle, dann tue ich offenbar mehr als nur das. Ich gebe zugleich meine Versorgungsmentalität zu erkennen, meine Sehnsucht nach sozialer Wärme – und natürlich vor allem: meine mangelnde Bereitschaft zur Eigenverantwortung. Meine Güte. Haben es all diese Protagonisten der Neuerfindung des Rades nicht ein bisschen kleiner? Meine Lebenseinstellung lässt sich nicht an meinen Beitragszahlungen für die gesetzliche Krankenkasse ablesen.
Die allermeisten dieser Diskussionen sind ohnehin Scheindebatten. Solange wir es nicht zu einem moralischen Prinzip erklären, Alten spätestens ab dem 75. Lebensjahr zu einem „menschenwürdigen Sterben“ zu verhelfen, so lange steht keineswegs fest, dass die – überaus theoretische – Unterscheidung zwischen Grundversorgung und Wahlversorgung den Krankenversicherungen nennenswerte Beträge sparen könnte. Selbiges gilt für die Rentenkassen. Die Durchschnittsrentner dürften einen Unterschied zwischen sozialverträglicher Grundrente und dem Ertrag aus ihren Eigenleistungen kaum spüren. Dafür ist ihre gesetzliche Altersversorgung allzu gering. Was soll also dieser ideologisch überfrachtete Quatsch?
Funktionslos ist er nicht. In dieser Woche finden die traditionellen Programmveranstaltungen der Bundestagsparteien statt. Dreikönigstreffen, Kreuth, Klausurtagungen. Wer gewählt werden will, muss sich von anderen unterscheiden – und darf dennoch das gesellschaftliche Klima nicht ignorieren. Ein erprobter Weg aus dieser Zwickmühle besteht darin, Diskussionen über Nebensächlichkeiten zur scheinbaren Erörterung von Grundsatzfragen aufzublasen.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel ist in diesem Zusammenhang der Streit über das neue Zuwanderungsgesetz. So sinnvoll oder verhängnisvoll dieses Gesetz auch sein mag: Für die konkrete gesellschaftliche Realität der Bundesrepublik dürfte es erheblich folgenloser bleiben als die Frage, wie viel Geld für die – parteiübergreifend geforderten – Deutschkurse tatsächlich zur Verfügung gestellt wird. Mit der Diskussion über diese Frage lässt sich allerdings nur schwer ein Wahlkampf führen, zugegeben.
Wenn der Wille dazu vorhanden wäre, dann gäbe es durchaus grundsätzliche Themen, die sich für eine prinzipielle Diskussion eigneten. Ob Krieg ein Mittel der Diplomatie sein darf, beispielsweise. Oder auch die Frage, wie sich eine Erweiterung der Europäischen Union mit deren Vertiefung vereinbaren lässt – und wo in diesem Zusamenhang die Grenzen gezogen werden müssen. Oder die Möglichkeiten und Zwänge einer Reform des föderalistischen Systems, gerade vor diesem Hintergrund.
All diese Themen sind jedoch nicht risikolos. Wer dazu ernsthaft Stellung bezieht, wird nicht vermeiden können, andere vor den Kopf zu stoßen. Was dazu führt, dass die wahren Grundsatzfragen immer häufiger kleingeredet und sämtliche Entscheidungen in diesem Zusammenhang regelmäßig zur notwendigen Folge von „Sachzwängen“ deklariert werden.
Woher rührt die wachsende Furcht von Berufspolitikern, mit der eigenen Position anzuecken? Zunehmend speist sie sich aus der immer hysterischer werdenden Beobachtung der Demoskopie. Aus gegebenem Anlass sei daran erinnert: Regierungen werden für eine Legislaturperiode gewählt. In dieser Zeit dürfen sie ganz, ganz dumme Entscheidungen treffen. Nach dieser Zeit können sie abgewählt werden. Vorher sind Neuwahlen jedoch selbst dann kein demokratisches Gebot, wenn sie von 99,2 Prozent der Teilnehmer einer TED-Umfrage unterstützt werden. Der Parlamentarismus hat nämlich Regeln. Die, anders als Ergebnisse der Meinungsforschung, von der Verfassung geboten sind. BETTINA GAUS