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Archiv-Artikel

Wie Spanien eine Irrfahrt organisierte

Gericht untersucht, was kurz vor und nach der Havarie des Öltankers „Prestige“ an Bord und im Krisenstab passierte

MADRID taz ■ Die Behörden waren sich einig: Der leckgeschlagene Tanker „Prestige“ soll so schnell es geht aufs offene Meer geschleppt werden. Ihn in stilles Gewässer zu schleppen, um dort die Ladung zu löschen, wurde nie ernsthaft in Erwägung gezogen. Dies ergibt sich aus den Aussagen der Beteiligten vor dem Ermittlungsrichter im galicischen Corcubión. Das Gericht ermittelt gegen den griechischen Kapitän der „Prestige“, Apostolos Mangouras, wegen „eines schwer wiegenden Umweltdelikts“ sowie wegen „Ungehorsam gegenüber den Behörden“.

Gleichzeitig jedoch wollen Richter und Staatsanwaltschaft wissen, wie die Entscheidung zustande kam, den Tanker ohne Kurs und Ziel auf hohe See zu schleppen, um ihn dort seinem Schicksal zu überlassen. Dem Verfahren in Corcubión könnten bald schon zwei weitere folgen. Staatliche Stellen im französischen Brest prüfen eine Anklage wegen Umweltverschmutzung gegen die Eigentümer der „Prestige“ – und gegen die spanischen Behörden.

„Der Befehl, das Schiff mindestens 120 Meilen hinauszufahren, kam zustande, weil man dachte, dass sich das Schweröl in mehr als 3.000 Meter Tiefe verfestigen würde“, erklärte der Verantwortliche für den Hafen in La Coruña, Angel de Real. Er saß während der Irrfahrt der „Prestige“ Mitte November zusammen mit dem Regierungsdelegierten Arsensio Férnandez de Mesa, dem Generaldirektor für Handelsschifffahrt, José Luis López, und weiteren Vertretern verschiedener Behörden im Krisenstab. Die Möglichkeit, das Schiff in den Hafen von La Coruña oder eine benachbarte Flussmündung zu schleppen, habe man „nach einem Telefongespräch mit den zuständigen Stellen“ ausgeschlossen. Es hätten kein Schiff zum Abpumpen der Fracht und keine schwimmenden Ölbarrieren zum Schutz der umliegenden Küsten zur Verfügung gestanden.

Als das Gericht die schriftlichen Berichte der Spezialisten einsehen wollte, war die Überraschung groß: Es gibt keine. „Wenn man viele Berichte verlangt, dauert es zwei Monate, um das Schiff dort wegzuholen“, erklärt der oberste Dienstherr der Schifffahrtsbehörden, der Minister für öffentliche Arbeiten, Francisco Alvarez Casco. Er selbst war an jenem Wochenende auf Erholungsreise in den Bergen.

Kapitän Apostolos Mangouras kann ebenfalls nichts Schriftliches zu den letzten Tagen der „Prestige“ vorlegen. Das Bordtagebuch reißt in dem Augenblick ab, als er erstmals SOS funkt. Es findet sich weder ein Eintrag über die Ursache des Lecks noch einer über die sieben Tage bis zum Untergang des Tankers. Nach den Ermittlungen des Gerichts weigerte sich Mangouras zunächst, sein Schiff abschleppen zu lassen. Er wollte in Küstennähe ankern, um besseres Wetter abzuwarten. „Ich wies die Behörden darauf hin, dass das Schiff auseinander brechen könnte“, sagte der Kapitän aus. Und: „Ich wollte die Umwelt schützen.“ Zu diesem Zeitpunkt sei nur wenig Öl aus dem beschädigten Schiff ausgelaufen.

Dies bestätigten die spanischen Inspektoren. Die Tanks waren anfänglich nicht beschädigt. Das Schweröl leckte durch den Einfüllstutzen. Nachdem die Lasttanks als Gegengewicht mit Wasser gefüllt worden waren, stabilisierte sich der stählerne Koloss sogar.

Laut Anklage beließ es Mangouras nicht nur bei seinen verbalen Warnungen. Vielmehr soll er sogar die Maschinen sabotiert haben, um so zu verhindern, dass sein Schiff auf hohe See geschleppt würde.

Die Prophezeiungen Mangouras’ sollten sich bald schon bewahrheiten. Je weiter sich die „Prestige“ von der Küste entfernte, umso größer wurde der Riss in der Bordwand. Tausende Tonnen Schweröl begannen ins Meer zu fließen. Angesichts der sich abzeichnenden Katastrophe begann die spanische Regierung die Verantwortung abzuwälzen. Der Krisenstab gab der holländischen Bergungsfirma Smit, die mittlerweile vom Reeder der „Prestige“ angeheuert worden war, freie Hand. Die Rettungsmannschaft änderte 60 Meilen vor der Küste den Kurs. Ziel jetzt: Kap Verde. Die dortigen Hafenbehörden hatten sich bereit erklärt, die „Prestige“ aufzunehmen, um sie endlich zu entladen.

Als der Tanker, der mittlerweile vom chinesischen Schlepper „Da De“ gezogen wurde, portugiesische Gewässer durchfahren wollte, hieß der Funkspruch: „Durchfahrt verboten“. Die „Prestige“ auf Irrfahrt.

Wenige Stunden später brach der Tanker entzwei und versank mit 50.000 Tonnen Öl an Bord in den Fluten. Die spanischen Behörden hatten ihr Ziel erreicht: Die Entfernung zur Küste betrug mehr als 120 Meilen, die Tiefe 3.600 Meter. Nur: das Öl hält sich nicht an die Hypothesen des Krisenstabes. Es verfestigt sich nicht. Tag für Tag fließen 150 Tonnen aus dem Wrack. Das Öl verseuchte die Küste von Nordportugal bis zur Bretagne.

Mehr als 730 Menschen haben sich bisher wegen der Ölpest an der spanischen Westküste medizinisch behandeln lassen müssen. Wie die galicische Regionalregierung mitteilte, hätten die Patienten Entzündungen an Hals und Augen sowie Atemwegsbeschwerden. In geringerem Umfang seien auch Hautreizungen, Übelkeit und Kopfschmerzen aufgetreten. REINER WANDLER