: Dramatische Algorithmen
Hollywood und das Pentagon arbeiten eng zusammen, nicht nur ideologisch, sondern vor allem auf technischem Gebiet. Simulation ist alles!
von DIETMAR KAMMERER
Eine Straße in einem Bürgerkriegsgebiet. Hubschrauber fliegen Patrouille, Soldaten stehen Wache, am Rand ein paar Zuschauer. In der Mitte der Straße parken ein weißer VW Golf und ein Armeefahrzeug. Eine Frau mit Kopftuch kniet vor einem liegenden Jungen mit einer Baseballmütze. Neben ihm kniet noch ein Soldat, aufrecht. Er ist viel größer als die Frau. Er schaut nicht auf den Jungen, er schaut geradeaus. Vielleicht betet er. Im Vordergrund, mit dem Rücken zur Szene, steht ein weiterer Soldat, das Gewehr im Anschlag. Er wirkt wie erstarrt, Blick nach oben, ohne Gesichtsausdruck.
Das Bild ist kein Bild, sondern eine Aufgabe: Rette den Jungen. Entwickelt wurde es von Programmierern, Drehbuchautoren und Virtual-Reality-Experten des „Institute for Creative Technologies“ (ICT) in Kalifornien. So sollen amerikanische Soldaten zukünftig Krieg lernen: mit 3-D-Brillen, wie im Videospiel. Das „Mission Rehearsal Exercise“-System ist die hochkomplexe Simulation einer möglichen Kriegssituation. An alles wurde gedacht: Ein Hochleistungsrechner (mit dem schönen Namen SGI Onyx Reality Monster) projiziert die gesamte Szenerie auf einen 180-Grad-Bildschirm, zehn Lautsprecher sorgen für eine realistische akustische Untermalung inklusive Hubschrauberlärm und dem Gemurmel der Zuschauer am Straßenrand.
Alle Personen im Bild sind virtual humans, die auf Ansprache und Handlungen reagieren. Der Soldat, der an dieser Simulation ausgebildet wird, muss in der Rolle eines Army Lieutenant die richtigen Entscheidungen treffen. Der Junge ist verwundet, die Straße liegt unter Beschuss, und die knieende Mutter kann kein Englisch. Stirbt der Junge, hat der Soldat verloren.
In ihrem Buch „Entsichert“ vertreten Tom Holert und Mark Terkessidis die These, der militärisch-kulturindustrielle Komplex habe den „Krieg als Massenkultur“ salonfähig gemacht. Schaut man sich die tatsächlichen Kooperationen von Militär und Unterhaltungsindustrie an, fällt jedoch auf, dass Hollywood und das Pentagon nicht nur kulturell, sondern vor allem technologisch kooperieren.
Geht es nach den Vorstellungen der Ausbilder, kann die Wirklichkeitsnähe von Übungsszenarien wie bei Mission Rehearsal Exercise nicht weit genug getrieben werden. Ideal ist die Simulation erst, wenn der Soldat in ihr reagiert wie in einer echten Entscheidungssituation – Herzklopfen, Schweißhände und emotionale Verstrickung inklusive. Was die Militärs erreichen wollen, können professionelle Gemütsmanipulatoren der Entertainmentindustrie schon lange, besser und vor allem: viel billiger. Zu diesem Ergebnis jedenfalls gelangte 1997 die vom National Research Council eingesetzte Arbeitsgruppe „Modeling and Simulation: Linking Entertainment and Defense“. Deren Abschlussbericht stellt fest: „Die Unterhaltungsindustrie wie das Verteidigungsministerium verfolgen mit Nachdruck die Entwicklung verteilter Simulationssysteme, die sowohl Onlinespiele als auch großangelegte militärische Übungen unterstützen können. Diese gemeinsamen Interessen legen eine Zusammenarbeit nahe, damit die individuellen Ziele effizienter erreicht werden und die Simulationstechnologie vorangebracht wird.“ Die Idee des ICT war geboren.
Alle großen Ideen fangen klein an. Statt einer Multimediashow präsentierte Michael Andrews nur einen Zettel, mit einer simplen Grafik: das Fünfeck des Pentagon und das Hollywoodzeichen, beide verbunden durch eine Brücke. Andrews, Wissenschaftler in Diensten der US-Armee, hielt das Blatt in die Höhe und erläuterte, wie er sich die militärische Ausbildung der Zukunft vorstellt: Er wolle den Soldaten ein Training bieten, das „genauso überzeugend“ sei „wie Leinwandunterhaltung“. Die anwesenden Filmprofis düften sich geschmeichelt gefühlt haben.
Ort der Veranstaltung waren die Paramountstudios, eingeladen waren Filmschaffende, Wissenschaftler und Militärs, um gemeinsam die Gründung des ICT zu feiern, des ehrgeizigen Joint Venture von Militär, Kulturindustrie und Wissenschaft. Dass ICT-Gründer Andrews die Institutstaufe im August 1999 bei Paramount veranstaltete, war wohl überlegt: Immerhin hatte das Studio im Jahr zuvor für das Weltkriegsdrama „Der Soldat James Ryan“ Schlachtszenen von bislang ungesehenem Realismus geschaffen.
45 Millionen Dollar hat das US-Militär in das Institut investiert, das nicht zufällig an der University of Southern California (USC) beheimatet ist. Die Filmstudios von Hollywood sind nicht fern, und an der USC dozieren Drehbuchautoren, Regisseure und Produzenten darüber, wie man Zuschauer mit allen Sinnen und Emotionen in eine Geschichte verwickelt. Die vom Militär entwickelten Simulationen, so Michael Zyda, Dozent an der Naval Postgraduate School in Monterey, sind nicht gut genug. „Wir können eigentlich nur Ballerspiele entwickeln.“ Also muss Hollywood einspringen. „Die Armee hofft, dass Filmememacher die künstlichen Charaktere der Trainingsszenarien realistischer gestalten und sich Geschichten ausdenken werden, die die Soldaten emotional einbinden in die Simulation, denn Emotionen können einen starken Einfluss darauf haben, wie Entscheidungen getroffen werden.“
Die Liste der am ICT beschäftigten Kreativen liest sich wie ein Who’s who von Hollywoods Kriegs- und Science-Fiction-Spezialisten. Unter Vertrag sind etwa Drehbuchautor John Milius („Apocalypse Now“); Paul Debevec, zuständig für die Spezialeffekte in „The Matrix“; und Ron Cobb, der unter anderem die Monster in „Star Wars“ und „Aliens“ auf die Leinwand brachte. Selbst die Gestaltung der Büros stammt von keinem anderen als Howard Zimmermann, Art Director der Science-Fiction-Saga „Star Trek“, deren Holodeck, die totale räumliche Simulation, das erklärte Ziel der ICT-Forscher ist. „Das Holodeck ist unser Heiliger Gral“, schwärmt Institutsdirektor Richard Lindheim, einst als Produzent bei Paramount für „Star Trek: Die nächste Generation“ zuständig.
Dabei ist das ICT nicht das einzige Beispiel für eine Zusammenarbeit von Militär und Unterhaltungsindustrie. Im Ausbildungszentrum Stricom („Simulation, Training and Instrumentation Command“) in Florida arbeiten mehrere Themenparkdesigner der nahe gelegenen Universal Studios und des Erlebnisparks Disneyworld im Dienste der US-Armee. Auch ihr Ziel: bessere Ausbildung durch realistischere und überzeugendere Szenarien.
Die Kooperation mit den Zivilen hat für die Armee auch finanzielle Vorteile. Anstatt Geld für die Entwicklung eigener, proprietärer Simulationstechnologie auszugeben, nutzen die Militärausbilder vorhandene zivile Hochleistungshardware wie die Sony Playstation 2 oder Microsofts X-Box, die dank Massenproduktion zu niedrigen Kosten zur Verfügung stehen. Auch Studios und Konsolenhersteller sollen ihren Vorteil von der Kooperation haben: Die Abmachung sieht vor, dass alle technischen Entwicklungen des ICT von der Entertainmentindustrie für eigene Zwecke verwertet werden dürfen.
Trotz der harmonischen Zusammenarbeit könnte durch ein anderes Projekt Konkurrenz entstehen: die Armeesimulation „America’s Army“, entwickelt vom militäreigenen Moves-Institut („Modeling, Virtual Environments and Simulation“), ist technisch auf dem allerneuesten Stand und bietet die gleiche Leistung wie teure kommerzielle Computerspiele – zum Nullpreis, als Werbegeschenk. Das Argument: Zukünftige Rekruten sind bessere Spiele gewöhnt, am Computer ausgebildet, und sie erwarten von ihrer Armee die höchsten Standards.
„America’s Army“ besteht aus zwei Teilen: In „Soldiers“ geht es um das Leben in der Kaserne. Der Spieler steuert sein virtuelles Double durch den Kasernenalltag, nimmt an den Übungen teil, muss sich mit Vorgesetzten und Kameraden auseinander setzen. Je nach seinen Entscheidungen ändern sich seine Punktekontos bezüglich „Charakterstärke“ und „Karrierechancen“. Eine story engine, ein location generator und eine animation engine basteln aus vorgegebenen Handlungs- und Hintergrundelementen immer neue Situationen zusammen. Sicher ist man in den Chefetagen Hollywoods schon aufmerksam geworden: Vielleicht ließen sich dank electronic story telling Drehbuchautoren durch dramatische Algorithmen ersetzen. „Soldiers“ erinnert stark an die beliebte Computerspielserie „The Sims“, schließlich war John Hiles an beider Entwicklung beteiligt.
Der zweite Teil, „Operations“, ist ein Strategiespiel, bei dem Teams von vier, fünf Spielern gegeneinander antreten. Der Clou: Jede Seite sieht sich selbst in den Uniformen der US-Armee, die anderen sind „die Bösen“. So steht man automatisch immer auf der Seite „der Guten“. Bevor man sich jedoch in den Kampf stürzen kann, muss jeder Spieler ein Soldatentraining absolvieren, das so nah wie möglich an der Wirklichkeit modelliert wurde. Das Ausbildungszentrum Fort Benning in Georgia wurde eigens dafür in Pixel umgesetzt.
In der Ausbildung lernt der Spieler/Rekrut, wie Waffen geladen und gereinigt werden, dass Munition begrenzt ist und wie man Granaten wirft. Sogar eine Ausbildung als „Sniper“, als Heckenschütze, ist vorgesehen, wobei der Spieler lernen muss, „an den richtigen Stellen während des Schießens mitzuatmen“. So viel Wirklichkeitstreue ist hart erarbeitet: Das gesamte Programmiererteam musste sich im echten Fort Benning dem Drill unterziehen, nächtliche Fallschirmabsprünge, Schießübungen mit dem M-16 und Armeeverpflegung inklusive. Erst wenn der Spieler in der Ausbildung die nötige Punktezahl erreicht hat, wird er für Operationen zugelassen.
Am 4. Juli 2002 wurde „America’s Army“ zum kostenfreien Download ins Netz gestellt. Zwei Monate später war das 211 Megabyte große Spiel etwa 2,5-Millionen-mal von den Servern abgerufen worden, in den USA wird es außerdem umsonst auf CDs verschickt. Das Kalkül der Macher, durch das Spiel zukünftige Rekruten zu werben, scheint aufzugehen: Knapp ein Drittel der Zugriffe auf die Rekrutierungsseite erfolgt nun von der Homepage des Spiels aus. Und über die Fähigkeiten ihrer Bewerber weiß die Armee nun auch besser Bescheid: Wer sich um eine echte Karriere in der wirklichen Armee bemüht, kann seinen Punktestand an das Department of Defense schicken. Die Zeiten, in denen ein einfaches „Uncle Sam wants you“-Poster zur Anwerbung ausreichte, sind wohl endgültig vorbei.
DIETMAR KAMMERER, 30, geht immer noch viel und gerne ins Kino, lebt als freier Autor in Berlin und bereitet zurzeit seine Dissertation zum Thema „Videoüberwachung“ vor