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Archiv-Artikel

Steinerne Familiengeschichte

Ein Bummel durch die slowakische Stadt Žilina mit ihren nationalen Symbolen: Der Vater der Nation, Andrej Hlinka, und das Denkmal zum Slowakischen Nationalaufstand, das Heldenthema der KP

Der Vater der Nation hat zur Dauerkrise der Ersten Republik beigetragen

von BALDUIN WINTER

Wladimir Iljitsch Uljanow, besser als Lenin bekannt, kraxelte einmal vom polnischen Zakopane aus auf die lichten Höhen der Hohen Tatra, genauer auf den 2.499 Meter hohen Rysy, Brüder, zur Sonne, zur Freiheit, zu schwindelnden Höhen empor. Das ist eine unkonventionelle und vor allem unbürokratische Möglichkeit, in die Slowakei zu gelangen, denn auf dem Gipfelgrat, der Grenze zwischen Polen und der Slowakei, muss man nicht stundenlang bei Grenzkontrollen anstehen. Allerdings hat Herr Uljanow sich gehütet, auf dieser Route in die Slowakei einzureisen, da die Südwand des Rysy einen Flachländer allzu leicht zum freien Fall verleiten kann, was eine gewisse Unordnung in den objektiven Lauf der Geschichte (hm …) gebracht hätte, schließlich stand noch die Oktoberrevolution aus, undenkbar, wäre Trotzki ihr strahlender Held gewesen.

Eine andere, nicht alltägliche Art der Einreise ist die Huckleberry-Methode, die Benutzung des Wassersystems, man kennt das von Mark Twains Flusspiraten vom Mississippi: ein zerlempertes Floß, Start in Berlin, Havel, Elbe, Nordsee, Ärmelkanal, dann Ärmel aufkrempeln und kräftig rudern, Rhein aufwärts, Main, Main-Donau-Kanal, Donau abwärts, Bratislava.

Möglichkeiten gibt es also viele, als Normalreisende fahren wir ganz bieder mit der Eisenbahn über Prag, Olomouc/Olmütz über die Waldberge der Westlichen Karpaten nach Žilina, einer Verwaltungs- und Industriestadt mit rund 100.000 Einwohnern und einer wechselvollen Geschichte.

Žilina kann sich sehen lassen. Die Innenstadt, großzügig renoviert, richtet sich um drei Plätze aus: Als ersten überschreiten wir jenen lebhaften Platz, auf dem der Markt abgehalten wird, der alles hat, was einen Marktplatz charakterisiert, von Paprika bis Pelargonien. Ein Platz von hohem Gebrauchswert. Eine Straße führt weiter zu einem schräg abfallenden Platz, der Marktplatz heißt, vor allem aber Hauptplatz ist mit Arkaden und Brunnen, Kirchen, Rathaus und Cafés, ein relativ geschlossenes Barockensemble, sozusagen das kakanische Žilina. Ein Platz von hohem Kommunikationswert.

Danach lassen wir die katholische Kirche links liegen und schreiten die Rampe hinunter zum dritten Platz, einem imperialen Forum, das Geschichte erzählt. Es ist der Andrej-Hlinka-Platz, benannt nach dem Gründer der autonomistischen Slowakischen Volkspartei (SLS, später HSL’S), die seit 1918 von der tschechischen Führung Autonomierechte einforderte.

Vermutlich standen zwischen 1948 und 1989 auf der mit Marmorplatten verkleideten Langbank, die wie ein Altar wirkt, einmal Marx, Engels und Lenin, vielleicht auch Stalin. Heute steht, so die Goldlettern am Sockel, „otec národa“, der „Vater der Nation“, darauf, die überlebensgroße Bronze des Pfarrers Andrej Hlinka im wallenden Priesterrock, mit ausgestreckten Armen das Taubenvolk segnend.

Das Volk dankt für den Segen, denn die Vase zu seinen Füßen ist immer mit frischen Blumen gefüllt. Ein Platz von hohem nationalem Symbolwert. Hlinkas Konterfei findet man auf Briefmarken und auf dem Tausendkronenschein. Als Indikator für die Spaltung der slowakischen Gesellschaft in der jüngeren Vergangenheit ist er noch in der Gegenwart sehr präsent. Nach der Gründung der Tschechoslowakei (1918) verficht er einen zunehmend autoritären Nationalismus und gewinnt für seine Ziele die protestantische Nationalpartei. Dieser „Autonomistische Block“ fordert das Selbstbestimmungsrecht, das spätestens im Mai 1938 als umfassende Autonomie formuliert wird. Nach dem Münchner Abkommen legt die HSL’S, nun schon unter Hlinkas Nachfolger Prälat Jozef Tiso, mit dem berüchtigten „Silleiner Abkommen“ sofort nach und zwingt die Prager Regierung in die Knie.

Mit der Autonomie der Slowakei beschleunigt sich der Zerfall der ČSR: Nach dem Verlust des Sudetenlandes muss die Slowakei ungarische Gebietsforderungen (rund ein Drittel ihres Territoriums) unter dem Druck Hitlers befriedigen. Für ihr „Los von Prag“ haben Hlinka und vor allem Prälat Tiso einen verhängnisvollen Bündnispartner gesucht: das Deutsche Reich. Hitlers Interesse gilt in erster Linie dem Sudetenland, des Weiteren dem hoch industrialisierten Böhmen und Mähren, dagegen ist er an der rückständigen Slowakei als Appendix des Reiches nicht interessiert.

Hlinka stirbt im August 1938, bevor sich die Ereignisse – Münchner Abkommen (September 1938), Territorialverluste, Zerschlagung der ČSR 1939, „Unabhängigkeit“ der Slowakei (14. 3. 1939) – überstürzen.

Aber dieser autoritäre „Vater der Nation“ hat kräftig zur Dauerkrise der Ersten Republik beigetragen, sich einiges von den Parteistrukturen der Nazis abgeschaut und keine Probleme mit den faschistisch-ständestaatlichen Vorstellungen bei den paramilitärischen Hlinka-Garden gehabt. Unter seiner Führung beginnt ein Kapitel in der Geschichte der Slowakei, das unter dem nächsten HSL’S-Führer Prälat Jozef Tiso zwischen 1939 und 1945 zu der heute noch umstrittenen „Unabhängigkeit“ führt: Umsetzung des jahrtausendalten nationalen Mythos, des sagenhaften Großmährischen Reiches des 9. Jahrhunderts, in einen eigenen Nationalstaat, Verwirklichung eines lange und heiß ersehnten Traums? – Oder ist es nur ein Vasallenstaat von Hitlers Gnaden, dessen frommer Vormann über 60.000 Juden, 80 Prozent der jüdischen Bevölkerung, an die faschistische Vernichtigungsmaschinerie ausliefert?

Noch ein wichtiges Denkmal steht im Bereich dieses Riesenplatzes der nationalen Symbole. Es ist eine korpulente Blumenplastik, eine Art Fleisch fressende Pflanze aus grünlich-grauer Keramik, von der Lavaströme aus ebensolcher Keramik auszugehen scheinen, die sich durch Wasserspiele mit echtem Wasser winden. Oberhalb der Fleischfresser-Keramik befindet sich ein realsozialistisches Relief von hohem pädagogischen Wert mit einem Menschenzug, teilweise uniformiert und bewaffnet: „Ó, do boja volala si matka vlast’ a my pre zivot sme ili“ (In den Kampf riefst du uns, Mutter Heimat, und wir sind um des Lebens willen gegangen) – Gedenken zum Slowakischen Nationalaufstand, den die KP zu ihrem großen Heldenthema gemacht hat. Nun haben die Kommunisten nicht mehr viel zu sagen, die Mehrzahl ihrer Kader hat sich in andere Parteien verkrochen, einige haben sich zu demokratischen Sozialisten à la PDS gewendet (Stimmanteil: ca. 10 Prozent). Mit ihren Symbolen entsorgt man auch ihre Themen. Ihre Gedenktafel zum Aufstand ist entfernt, man hat es nicht einmal der Mühe wert gefunden, das Loch mit einer Platte zu bedecken. Oder wird gerade an einer neuen Heldenplatte gearbeitet?

So groß der Platz, so pathetisch die beiden Denkmäler – es geht hier eigentlich nicht um den unversöhnlichen Kampf zwischen Demokratie und Diktatur, nein, es geht um die Projektion dieser abstrakten Begriffe in jenen intimen Raum, den alle kennen, in dem es nach Küche riecht und nach Windeln, von draußen her rauscht der Váh/Waag, und auf der Pawlatschen ratschen die Nachbarinnen. Es geht, schlicht und ergreifend, um die nationale Gemeinschaft, um die Familie, um Vater Hlinka, um Mutter Heimat, und wenn es Streit gibt, gibt es Ohrfeigen, und wenn es den Aufstand der Söhne gibt, dann gibt es Hausarrest, und manchmal hängt sich einer auf. Aber bei allem Zank, man muss zusammenleben, „wir sind doch alle Slowaken“.

Daher hat es seine tiefe Logik, dass Hlinka und die Aufrührer gegen sein System auf ein und demselben Platz stehen.