: Berliner essen immer billiger: Die Discounter boomen
Immer mehr Berliner und Berlinerinnen kaufen bei Aldi, Lidl, Penny & Co. ein. Im nächsten Jahr werden die Discount-Märkte schon jeden zweiten Euro umsetzen. Der Trend zu Öko-Lebensmitteln verlangsamt sich, aber die ökologisch bewirtschafteten Anbauflächen in Brandenburg wachsen
Der junge Mann schiebt hektisch den prall gefüllten Einkaufswagen durch einen Kreuzberger Lidl-Markt, seine Tochter im Vorschulalter hinter sich herziehend. „Wir müssen noch zum Regal mit dem Kakao“, sagte er sanft zu ihr, um ihr im Gedränge Mut zu machen. „Halt, wartet!“, ruft eine junge Frau, die plötzlich von hinten heranstürmt, beide Arme voll bepackt mit Zucker, Mehl, Kakao, Espresso, Aceto Balsamico und einer Flasche Rioja, Gran Reserva. „Super, dass du so schnell warst“, sagt der Mann und gibt der Frau ein Küsschen auf die Stirn. „Lass uns schnell den Markt verlassen“, sagt er in feinstem Hochdeutsch.
Hochdeutsch ist in dieser Fialiale, in der in der Regel Türkisch, Russisch, Polnisch oder Berliner Dialekt gesprochen wird, in letzter Zeit immer öfter zu hören. Das Pärchen mit dem Kind, beide um die 30 und hip-schick gekleidet, scheint einen Trend zu symbolisieren: Immer mehr Berliner, auch solche, die früher beim Stichwort Aldi, Penny oder Lidl die Nase rümpfen, stürmen in die Discounter. Wobei die intellektuell-alternative Mittelschicht ihren Einkauf zunehmend splittet: Grundnahrungsmittel wie Brot, Reis, Nudeln, Mehl, Konserven, Milch, Butter etc. werden beim Discounter geholt – frische Wurst und Käse gibt’s im italienischen Spezialitätengeschäft, Vollkornbrot und Gemüse auf dem Öko-Markt.
Dazu haben nicht nur die reale Krise oder die „gefühlte Inflation“ im Zuge der Euro-Bargeld-Einführung geführt, sondern auch der Imagewandel der Discounter. „Es ist auch in höheren Einkommenschichten Kult geworden, hier einzukaufen“, sagt Jan Holzweißig, Sprecher des Berliner Einzelhandelsverbands. Dies gelte mittlerweile gar als „intelligentes Einkaufen“ – trotz BSE-Krise oder anderer Lebensmittelskandale.
Die Zahlen sind eindeutig: Die Einzigen, die im Lebensmitteleinzelhandel im vergangenen Jahr zulegen konnten, waren die Discounter; alle anderen sackten ab oder konnten das Vorjahresergebnis gerade so halten. Die Discounter verbuchten nach Angaben des Einzelhandelsverbands bis zum September 2002 knapp 12 Prozent mehr Umsatz im Vergleich zum gleichen Vorjahreszeitraum – angesichts eines stagnierenden Gesamtmarkts ein erhebliches Wachstum. Der Marktanteil stieg damit auf rund 45 Prozent; im nächsten Jahr wird er voraussichtlich bei 50 Prozent liegen.
Angesichts steigender Arbeitslosigkeit, höherer Steuern, der Sparmaßnahmen des Senats (beispielsweise bei den Bädern) sowie zum Teil deutlicher Preiserhöhungen im Zuge der Euro-Bargeld-Einführung – zum Beispiel in Gaststätten und Dienstleistungsbetrieben – sehen sich offenbar immer mehr Berliner und Berlinerinnen gezwungen zu sparen, wo es geht. Der Umstand, dass die Stimmung sogar deutlich schlechter ist als die reale Lage, verstärkt diesen Prozess. Im Lebensmitteleinzelhandel bekamen das die klassischen Supermärkte besonders zu spüren: Ihr Umsatz sank um knapp 5 Prozent.
Zu den Verlieren gehören auch die Öko-Läden. Im Schnitt konnten sich die Umsätze zwar auf dem Vorjahresniveau halten, ergab eine Umfrage der Fördergemeinschaft Ökologischer Landbau Berlin-Brandenburg e. V. (FÖL) unter den vier größten Bio-Großhändlern. Vor Jahresfrist waren aber noch kräftige Umsatzzuwächse anvisiert worden. FÖL-Chef Michael Wimmer bewertet die Entwicklung dennoch nicht negativ: „Nach dem BSE-Boom konsolidiert sich der Markt für Bio-Lebensmittel auf hohem Niveau.“ Trotz des Nitrofenskandals und der „Teuro“-Debatte hätten sich Bioprodukte gut behauptet.
Für 2003 erwarteten einige Großhändler wieder ein leichtes Umsatzplus von bis zu 4 Prozent. Wimmer: „Die Agrarwende der Bundesregierung trägt nun erste Früchte.“ Die Anbaufläche in Brandenburg expandiere weiter: Insgesamt 108.000 Hektar würden inzwischen ökologisch bewirtschaftet, knapp 8 Prozent mehr als im Vorjahr. Brandenburg sei damit bundesweit Spitzenreiter. RICHARD ROTHER