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Archiv-Artikel

„Viele Kinder haben sich aufgegeben“

KLAUS HURRELMANN, 64, ist Bildungsforscher an der Universität Bielefeld. Er war Leiter der Shell-Jugendstudie 2002 und 2006 sowie Leiter der Studie „Kinder 2007“ des Hilfswerks World Vision zum Thema „Schulverweigerer“.

INTERVIEW ANNELIE OTTE

taz: Herr Hurrelmann, würden Sie gerne noch einmal zur Schule gehen?

Klaus Hurrelmann: Ja, denn ich war immer ein neugieriger Schüler. Und eigentlich müsste die Schule heute sogar viel besser sein als zu meiner Zeit, weil wir viele neue pädagogische Erkenntnisse gewonnen haben.

Schätzungen zufolge gehen 300.000 bis 500.000 Jugendliche nicht gerne zur Schule. Wie lautet hier die richtige Frage: Was machen diese Kinder und Jugendlichen falsch? Oder: Was hat man ihnen angetan?

Eindeutig letztere: Was hat man diesen Kindern angetan? Alle Studien, alle Erfahrungen belegen: Kinder sind von Natur aus neugierig und lernbegierig. Sie wollen zeigen, was sie können. Dieses Bewusstsein ist bei Kindern und Jugendlichen heute noch stärker ausgeprägt als früher. Weil alle spüren – auch die aus den bildungsärmsten Familien –, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der die individuelle Leistung bestimmt, wohin man kommt. Im Grunde müssten alle gerne zur Schule gehen wollen.

Wie kann es dann sein, dass so viele Schüler an der Schule scheitern?

Weil die Schule ihnen nicht gerecht wird. In der Grundschule ist die Lage noch am besten, da lautet die Grundkonzeption des Schulsystems: „Wir müssen uns auf die Kinder zubewegen und ihnen ein Angebot machen.“ Das war in den 70ern noch anders, und die positive Entwicklung der Grundschulen ist vermutlich auch der Schlüssel dafür, weshalb Deutschland im internationalen Vergleich hier heute ganz gut abschneidet. An den weiterführenden Schulen aber versündigen wir uns pädagogisch an den Kindern.

Wo genau liegt das Problem?

Plötzlich lautet die pädagogische Philosophie von Gymnasium und Realschule: „Wir suchen nur die Kinder aus, die zu uns passen, die anderen weisen wir ab.“ Für diejenigen, die nicht die Erwartungen erfüllen, haben wir dann eine Auffangschule, die Hauptschule. In Finnland oder Kanada ist das genau umgekehrt: Sie schauen, welche Stärken die Schüler haben und welche Schwächen. Und passen die pädagogische Arbeit, die Didaktik, das Lehrerverhalten, kurzum das ganze Schulsystem den Schülern an. Sie setzen also das Konzept fort, das wir aus den Grundschulen kennen.

Wer die Hauptschule ohne Abschluss verlässt, erhält ein „Abgangszeugnis“ als Dokument des Scheiterns. Gäbe es nicht eine bessere Alternative?

Wenn eine Gesellschaft jedes Jahr 80.000 Jugendliche mit dem amtlichen Beleg „Ihr erfüllt nicht die Mindestanforderungen“ aus dem Schulsystem entlässt, dann ist das eine ganz bittere Erfahrung des Versagens für diese jungen Leute. Wir brauchen eine sachlich faire und menschenwürdige Form der Dokumentation von Leistungen; sodass jeder einzelne Schüler etwas vorzeigen kann, was seine Fähigkeiten detailliert auflistet. Ich bin für ein Schul-Abschluss-Zertifikat für jeden, das durch genaue Beschreibung die Noten ergänzt. Den Namen „Hauptschul-Abgangszeugnis“ würde ich ersatzlos streichen.

Was genau stört Sie daran?

Das Zeugnis mit einer Schulform zu verbinden, hat sich als sehr problematisch erwiesen. Wir sagen ja auch nicht Gymnasialabschluss, sondern „Abitur“. Wir sagen „Mittlere Reife“. Dann muss es doch Möglichkeiten geben, einen verständlichen Begriff zu finden, der das Gleiche für einen grundlegenden Basisabschluss der Pflichtschulzeit abbildet.

Allein die Bezeichnung „Hauptschule“ ist schon demotivierend?

Genau. Das Zuweisen von Schülern zu einer Hauptschule allein führt zu dem Gefühl: „Im Grunde habe ich verloren, ob ich da noch hingehe oder nicht, macht für meine späteren beruflichen und gesellschaftlichen Chancen praktisch nichts mehr aus.“ Diese Klassifizierungsmuster gehören abgeschafft.

Wäre es nicht besser, die Hauptschule ganz abzuschaffen?

Dafür plädiere ich seit langer Zeit. Wenn wir nicht wollen, dass die schwachen Schülerinnen und Schüler sich in bestimmten Schulformen sammeln, dann müssen wir das weiterführende Schulsystem umbauen. Viele der skandinavischen Länder haben das bereits vor etwa 20 Jahren getan und großen Erfolg damit gehabt. Sie haben die Grundschule verlängert und eine einheitliche Schulform auch für die höheren Jahrgänge etabliert. Eine Gemeinschaftsschule oder Gesamtschule, wie auch immer man sie nennen will.

Da muss Deutschland auch hin?

Das sollte unser Fernziel sein. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass wir das in einem einzigen Reformschritt schaffen.

Warum nicht?

Dazu ist das System bei uns historisch zu stark gewachsen und in der Vorstellung der Eltern zu fixiert. Aber wenn wir weiter ein sehr stark aufgegliedertes Schulsystem haben, dann werden sozial und leistungsmäßig benachteiligte Schüler einfach in bestimmte Schulformen abgeschoben. Und diese Schüler motivieren sich untereinander nicht nach oben, sondern nach unten. Alle Studien bestätigen das.

Was heißt das? Wie lauten die konkreten Reformschritte?

Das heißt, die Vielgliedrigkeit des Schulsystems mit Augenmaß zunächst auf zwei Schulformen zu reduzieren. Ich persönlich finde zwei Stränge sehr gut, wobei dann die Schulformen sich die Schüler nicht mehr gegenseitig zuschieben dürfen, sondern einmal aufgenommene Schüler auch behalten müssen. Oder sie dürfen nur im Einvernehmen mit allen Beteiligten wechseln. Dann hätten wir eine eher akademisch orientierte Schule, Typ Gymnasium, und eine stärker projektbezogene Schule, Typ Fachgymnasium.

Das kann funktionieren?

Absolut. Der Prozess der Integration der Hauptschule in andere Schulformen ist ja in den neuen Bundesländern schon sehr weit und wird zurzeit in den meisten alten Bundesländern bereits eingeleitet, wobei Hamburg und Rheinland-Pfalz die Vorreiter sind.

Schulverweigerer berichten immer wieder von Problemen mit Lehrern.

Wir müssen sehen, was Lehrer können, und wo ihre Grenzen sind. Lehrer sind keine Sozialarbeiter, keine Psychotherapeuten, sie sind keine Pfleger und keine Mediziner. Wir müssen aufpassen, dass wir sie nicht mit Aufgaben überfordern, die nichts mehr mit Unterrichtsorganisation und Persönlichkeitsentwicklung im überwiegend kognitiven und intellektuellen Bereich zu tun haben. Richtig ist, dass Lehrer schon in der Ausbildung Diagnose- und Förderkompetenzen stärker mit auf den Weg bekommen sollten.

TAZ-BILDUNGSSERIE

Am 22. Oktober will sich Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Vertretern der Länder in Dresden zum „Bildungsgipfel“ treffen. Ein Ausweg aus der deutschen Bildungsmisere? Oder reine Symbolpolitik? Die Autoren der taz beschreiben in einer sechsteiligen Serie, wo die drängendsten Probleme auf der Baustelle Bildung liegen. Vergangene Woche war hier zu lesen, wie schwer es einige der gut 400.000 Sonderschüler haben, nach der Schule eine Ausbildung zu bekommen. Nächste Wochen beschreibt die taz das Schicksal der rund 500.000 Jugendlichen, die anstatt auf dem klassischen Weg einen Beruf erlernen zu dürfen, lediglich im sogenannten Übergangssystem landen.

Anstatt Lehrer, die im alten Denken verharren, benötigen die Schulen also auch mehr Experten von außen?

Lehrerinnen und Lehrer werden im Schulsystem die führende professionelle Gruppe bleiben. Allerdings muss man daneben Menschen stellen, die eine Hilfsfunktion übernehmen und den Lehrkräften zur Hand gehen können, eine Art von „Teaching Assistants“. Und zusätzlich andere professionelle Gruppen. Wir haben zu wenig Menschen in der Schule, die administrative Arbeiten und Managementaufgaben übernehmen. Wir haben zu wenig psychologische und sozialpädagogische Fachleute, Pflegekräfte, eventuell auch Ärzte.

Besteht die Gefahr, dass die Zahl der Absolventen ohne Abschluss über zehn Prozent steigt?

Wenn wir unser Schulsystem nicht reformieren, wird das unvermeidbar so kommen. Die World-Vision-Kinderstudie zeigt, dass schon ein Viertel der Grundschulkinder sich selbst aufgegeben hat, weil diese Kinder den Eindruck haben, ihnen werde keine Chance gegeben. Grundschulkinder! An manchen Hauptschulen hören die Schüler schon in der achten Klasse von ihren Lehrern: „Unsere Abschlussklasse hat sich um Ausbildungsplätze bemüht, aber nur 5 von 90 haben etwas bekommen, die anderen sind leer ausgegangen.“ Das zerstört natürlich jede Motivation. In den Augen der meisten Eltern ist die Schule nun einmal eine Institution, die ausbildet, damit man später eine berufliche Tätigkeit aufnehmen kann.

Welche Folgen haben die konstant hohen Zahlen von scheiternden Schülern für die Gesellschaft?

Auf Dauer ist es unerträglich für ein leistungsfähiges Land, ein Schulsystem zu haben, das einen so hohen Anteil von Schülern zu Versagern abstempelt. Die meisten dieser Versager sind heute übrigens männlichen Geschlechts. Das hat weitreichende Konsequenzen für das Selbstwertgefühl dieser jungen Leute. Sie werden destruktiv und richten ihre Aggressionen aus Enttäuschung gegen sich selbst – und selbstverständlich auch gegen die Gesellschaft.

Bildungsverlierer sind eine Gefahr für die Gesellschaft?

Wenn eine große Gruppe von Menschen mit einem bestimmten sozialen Hintergrund – relativ arme Elternhäuser, relativ niedriger Bildungsgrad der eigenen Eltern und relativ schlechte soziale, sprachliche und kulturelle Integration – so stark benachteiligt wird, dass sie aus der Gesellschaft rausgedrängt wird, wirkt sich das negativ auf alle aus. Man kann auch noch weiter gehen: Die strukturelle Benachteiligung von derzeit rund 20 Prozent eines Jahrgangs gefährdet auf Dauer unsere Demokratie.

Inwiefern?

Diese jungen Menschen zweifeln daran, dass das politische System Konflikte und Verteilungs- und Machtfragen überhaupt noch regeln kann. Denn sie merken ja selbst täglich, wie schlecht sie in diesem System abschneiden, das für sie „die Gesellschaft“ repräsentiert.