Die Baumeisterin der Straße nach innen

Dorothea Becker hat 1998 das erste Hospiz in Berlin gegründet. Damals gab es kaum Vorbilder und erst recht keine gesetzliche Regelung für Sterbehäuser. Zum 10-jährigen Jubiläum erhielt sie jetzt das Bundesverdienstkreuz – stellvertretend für ihr Team

„Die Begleitung in den Tod darf kein Selbst- bedienungsladen fürs eigene Ego sein“ „Hospizarbeit ist so vielfältig, ich kann mir ständig etwas Neues ausdenken“

VON WALTRAUD SCHWAB

Dorothea Becker lässt sich herausfordern von Grenzen. Solchen, die zwischen Aufbruch und Abschied liegen. Zwischen Sterben und Tod.

Ruhig sitzt die 53-Jährige in ihrem kleinen Büro im Ricam-Hospiz in Neukölln. Auf den Regalen stehen ein paar Bücher, ein Tablett mit Gläsern, eine Vase mit Blumen. Es wirkt, als sei sie erst vor kurzem eingezogen, als seien nicht schon zehn Jahre vergangen, als habe sie nicht unzählige Menschen mit ihren Geschichten an sich vorbeiziehen sehen. Menschen, die in dieser lichtdurchfluteten Etage im obersten Stock eines Neubaus in der Delbrückstraße die letzten Monate, Wochen, Tage ihres Lebens verbrachten. An einem Ort, der – so hoch über den Neuköllner Dächern gelegen – wie eine Aussichtsplattform in den Himmel wirkt.

Becker hat das erste Hospiz in Berlin gegründet und aufgebaut. Von der Idee bis zur Einweihung. Von der Einweihung bis heute. Dafür wurde sie am Wochenende mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt. Als Krankenschwester hat sie die Leerstelle, die das Sterben – nicht der Tod – im Alltag und im Krankenhaus einnimmt, nicht länger gutheißen können. „Sterben wird ignoriert. Es wird nicht als Zeit des Übergangs verstanden.“

Übergang, Brücke, Verbindungsweg, Steg – solche Wörter benutzt Becker gern. Sie ist die Bauarbeiterin, die dafür sorgt, dass der Boden, auf dem die Sterbenden gehen, hält. Von „Initiation“, „Transzendenz“ oder „Transition“ spricht sie dagegen nicht, denn „die Begleitung in den Tod darf kein Selbstbedienungsladen fürs eigene Ego sein. Die eigene Erleuchtung hat da nichts zu suchen.“

Ein wenig erklärt Beckers Biografie, warum sie sich gut aufs Vorübergehende einlassen kann. „Ich bin jemand, der nicht so furchtbar viel Halt braucht. Ich bin jemand, der mit dem, was kommt, was geht, gut umgehen kann.“ Sie meint es ganz praktisch, ganz aus dem Leben heraus. „Wenn man in der DDR lebte, war Grenze sowieso immer aktuell. Dass ich mich vom Westen, von der anderen Welt, getrennt wusste, das hat mich verrückt gemacht. Nicht weil ich dahin wollte, sondern weil es mir verwehrt war.“

In der Uckermark ist Dorothea Becker groß geworden. Als Pfarrerstochter war ihr in der DDR ein gradliniger Berufsweg mit Abitur, Studium, Karriere verwehrt. Als „relative Perspektivlosigkeit“ beschreibt sie ihre Situation. Aber als eine, „die folgerichtig war“. Genauso folgerichtig, wie die persönlich Haltung, die daraus resultiert: „Ich war immer quer.“ In der Partei war sie nicht und auch nicht in der Gewerkschaft. „Planerfüllung war nichts für mich.“ Eigensinn eher.

In den 70er-Jahren hat Becker Krankenschwester gelernt und bis 1984 in der Chirurgie, auf Wachstationen, in Abteilungen für Inneres gearbeitet. Der Tod war immer dabei. „Im Osten war das Sterben im Krankenhaus mit größtem Pragmatismus unwürdig.“ Allerdings war es nicht so, dass man dies nicht wusste. „Ich habe in einer Zeit gelernt, als es in der DDR ein gewisses Nachdenken über das Sterben gab.“

Einige der bekanntesten ostdeutschen Schriftstellerinnen, darunter Irmtraud Morgner, Brigitte Reimann, aber vor allem Maxie Wander, brachen damals das Tabu um Krankheit und Tod. Wander hat ihren Kampf gegen den Krebs in dem Buch „Leben wär’ ne prima Alternative“ festgehalten und nicht mit Kritik am DDR-Gesundheitswesens gespart.

Eine konkrete Wendung nahmen Beckers Grenzerfahrungen ab 1984. Denn in jenem Jahr reichte sie ihren Ausreiseantrag aus der DDR ein. Die Konsequenzen waren erheblich. Wer dieser Heimat den Rücken kehren wollte, wurde vorab durch Ausgrenzung auf die kommende Abwesenheit eingestimmt. Das eigene Land wurde Becker zu einer Zwischenwelt. „Ich hätte im Osten bleiben können“, erzählt sie. Für ihre zwei Kinder allerdings wollte sie eine andere Art von Freiheit.

In den drei Jahren, die sie auf die Bewilligung der Ausreise wartet, in denen der Staat sie wissen lässt, dass sie schon nicht mehr dazu gehört, arbeitet sie in einer Nische, in der religiöser Glaube den Parteiglauben in Schach hält – der Frauenklinik „Maria Heimsuchung“, einem katholischen Krankenhaus in Pankow. Bei ihrer Arbeit dort lässt sich Becker von jenen Dazwischenwelten berühren, wie Frauen sie erleben, wenn sie ein krankes Kind bekommen oder ihr Kind verlieren. Oder wenn sie es zur Welt bringen und dann – warum auch immer – weggeben. „Was diese Mütter erlebt haben, das war schon unerträglich.“ Sie habe die Arbeit dennoch sehr gern gemacht, erzählt sie, weil sie niemandem etwas vorzumachen brauchte. „Geburt und Tod, das sind ja ähnlich bewegende Momente. Das erschüttert einen.“

Nach ihrer Ausreise aus der DDR 1987 lebt sie zuerst im Odenwald, bevor sie 1992 nach Berlin geht und auf der Krebsstation im Neuköllner Krankenhaus arbeitet. Den Umgang mit Sterbenden fasst sie in einem Drei-Sätze-Szenario zusammen: „Tür auf. Er schnauft noch. Tür wieder zu.“ Erst für den Fall, dass der Mensch nicht mehr atmete, lagen Anweisungen vor: In zwei Stunden musste er von der Station verschwunden, das Bett neu bezogen sein. „Und das ist mit Leuten passiert, die man mitunter über einen langen Zeitraum kannte“, sagt Becker. „Ein Wort wie Seelenwanderung macht da keinen Sinn.“

Auf der Krebsstation hat die Krankenschwester erlebt, dass es Leute gibt, die auf eine eigenartige Weise in den Kliniken übrig bleiben. Austherapiert sind sie. „Gehen Sie nach Hause, machen Sie es sich schön“, werde zu ihnen gesagt. In der Endphase der Krebserkrankung mit Luftnot, Übelkeit, Appetitlosigkeit, Schmerzen landeten sie dann doch wieder auf der Krebsstation. „Ich wollte, dass es für diese Leute einen Ort, eine Heimat, gibt“, sagte Becker.

„Wonach du suchst, das heißt ,Hospiz‘ “, sagen Bekannte zu ihr. Als sie es hört, kommt sie nicht mehr davon los. Gemeinsam mit einer anderen Krankenschwester entwickelt sie ab 1994 ein Konzept für eine Einrichtung, wo Menschen im Endstadium einer zum Tode führenden Krankheit aufgenommen und betreut werden sollten. Sie nennen es „das andere Krankenhaus“, denn damals gab es in der BRD noch keine rechtliche Grundlage für Hospize.

Intuitiv setzen Becker und ihre Kollegin einen Schritt vor den anderen: Sie gründen eine Initiativgruppe und begeistern Freunde, Bekannte und Unbekannte für den Plan. Sie bekommen Unterstützung von der Ärztekammer, die die Schirmherrschaft übernimmt. Sie suchen nach geeigneten Orten, diskutieren mit den Politikern und unterstützen die Lobbyarbeit für ein Hospizgesetz.

Bereits 1995 machen Makler sie auf die geplante oberste Etage eines Neubaus in Neukölln aufmerksam. Ohne zu wissen, wie es auf dem Dach einmal aussehen wird, unterschreiben Becker und ihre Kollegin den Mietvertrag. Und dies, obwohl das Hospizgesetz noch immer nicht verabschiedet ist und es damit auch keinen Anspruch auf Finanzierung durch Krankenkassen und Sozialhilfeträger für die Sterbenden gibt. Erst 1998 wird das Gesetz rechtskräftig. Becker und ihre Mitstreiterin gründen eine GmbH. Ihre ganzen Ersparnisse, 50.000 Mark, fließen in die Einlage. „Es war mein Risiko“, sagt sie.

Ein Risiko in der Tat. Denn kurz vor der Fertigstellung der Etage 1998 tauchen die Probleme richtig auf. Unerwartet verweigert die Bank für Sozialwirtschaft, wo die Konten für die GmbH-Einlage und die Spendengelder sind, den Kredit in Höhe von 1,2 Millionen Mark. Zu jenem Zeitpunkt verhandeln Becker und ihre Kollegin allerdings bereits mit den Inneneinrichtern. In letzter Sekunde springt die Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken ein. Im Sommer 1998 ziehen die ersten Sterbenden ein. Zum fünften Jubiläum des Hospizes, im Juni 2003, ist die Einrichtung schuldenfrei.

Das Hospizgesetz, das Becker in der heutigen Fassung für sehr gut hält, sieht vor, dass die Patienten und Patientinnen sowie die Einrichtung je 10 Prozent der Kosten selbst aufbringen müssen. Das Ricam muss auf diese Weise jährlich etwa 150.000 Euro erwirtschaften. Vor allem durch Spenden. Außerdem sind stationäre Hospize verpflichtet, auch ambulante Sterbebegleitung anzubieten. Ohne Ehrenamtliche geht das nicht.

Das Ricam hat 15 Betten. Mehr als 16 sollen es dem Hospizgesetz zufolge in einer Einrichtung nicht sein. So wird vermieden, dass ein Hospiz für kommerzielle Anbieter interessant wird. Die durchschnittliche Liegezeit beträgt einen Monat. Ein Drittel der Kranken sind weniger als zehn Tage dort. Etwa 6 Prozent der Patienten verlassen das Hospiz, weil sie sich stabilisieren oder doch einen Weg finden, der ihnen ein Sterben im Familienkreis ermöglicht. Es gibt auch einige Kranke, die mehr als sechs Monate dort sind. Ein Mann lebte fast ein Jahr im Ricam.

Becker ist die Geschäftsführerin des Hospizes. Als solche ist sie Sinngeberin, Koordinatorin, Repräsentatin. Sie muss die betriebswirtschaftliche Lage einschätzen, muss motivieren, dirigieren und Impulse geben, zuhören und betreuen. Sie muss Gäste empfangen, Patientengeburtstage und sogar Hochzeiten feiern. Und sie muss Benifizveranstaltungen organisieren. Gabi Decker und Frank Zander haben fürs Ricam-Hospiz gesungen, Barbara Thalheim und Konstantin Wecker auch.

„Die Hospizarbeit ist so vielfältig, dass ich mir ständig etwas Neues ausdenken kann“, sagt Becker. Derzeit wird der Hospizgedanke, der der Lebensqualität Todkranker oberste Priorität einräumt und nicht der Hoffnung auf Heilung, vor allem in Pflege- und Senioreneinrichtungen getragen. Becker und ihre MitstreiterInnen sind die Keimzelle solcher Entwicklungen. Das Ricam-Hospiz macht anerkannte Fortbildungen in diesem Bereich.

Becker, eher scheu, sieht sich allerdings nicht gern in dieser hervorgehobenen Stellung. Auch das Bundesverdienstkreuz nimmt sie nur stellvertretend für ihre Mitstreiter und Mitstreiterinnen an. Nichts dürfe Ausschließlichkeitscharakter haben, meint sie. „Ich kann alles abgeben. Das Hospiz muss unabhängig von mir funktionieren können.“ Deshalb wohl sieht es in ihrem Büro so aus, als wäre sie gerade eingezogen.

Ungefähr 1.900 Menschen sind im Ricam in den zehn Jahren seit seiner Eröffnung gestorben. Das sind 1.900 Lebensgeschichten. Ändert die Hospizarbeit die Wahrnehmung vom Tod? Becker bejaht. Im Sterbeprozess beschäftigten sich die Leute mit dem, was für sie wichtig sei. „Sie gehen nach innen. So ist der Weg.“

Von 12. bis 17. Oktober findet in Berlin die Hospizwoche statt. Mit Informationen rund um die hospizliche und palliative Begleitung. www.hospizwoche.de