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Archiv-Artikel

Offene und geschlossene Kreise

aus Porto Alegre GERHARD DILGER

Auf den Gängen der Katholischen Universität im brasilianischen Porto Alegre übersieht man ihn fast. Auch wenn er leise über die „ethische Verpflichtung der Unternehmer“ referiert, zieht der graubärtige Mann seine Zuhörer kaum in den Bann. Aber wenn Oded Grajew (58) von den Anfängen des Weltsozialforums erzählt, bekommt er leuchtende Augen.

„Als im Januar 2000 das Weltwirtschaftsforum in Davos stattfand, dachte ich mir, eigentlich müsste man eine Gegenveranstaltung auf die Beine stellen, bei der soziale Fragen im Vordergrund stehen“, sagt der frühere Spielzeugunternehmer und Begründer der Unternehmerorganisation „Ethos“. Er fuhr nach Paris, zu Bernard Cassen, dem Generaldirektor von Le Monde diplomatique und Vorsitzenden von Attac Frankreich. „Cassen war begeistert und schlug als Tagungsort Porto Alegre vor, wo er kurz zuvor den Bürgerhaushalt der Arbeiterpartei PT kennen gelernt hatte“, erinnert sich Grajew. Ein Jahr darauf war es so weit: 15.000 GlobalisierungskritikerInnen, vorwiegend aus Lateinamerika, Frankreich und Italien, pilgerten nach Porto Alegre.

Eine gelungene Attacke

Nach dem „Intergalaktischen Treffen gegen den Neoliberalismus“ der Zapatisten 1996 und den Protesten von Seattle Ende 1999 wurde das Weltsozialforum zum Symbol für das Streben nach einer „anderen Welt“ jenseits der Warenlogik. Selbst die Financial Times schrieb wenig später von einer gelungenen „Attacke auf den Planeten Davos“. Im vergangenen Jahr waren es dann schon 50.000 Menschen, die in den südbrasilianischen Hochsommer reisten, in diesen Tagen werden doppelt so viele Delegierte erwartet.

Wegen der Wahlkämpfe und Regierungswechsel der letzten Monate wird vieles buchstäblich in letzter Sekunde auf die Beine gestellt. Hunderte Helfer kommen ins Schwitzen, das gedruckte Programm gibt es erst morgen, denn die Tagesordnung wurde noch bis gestern Nacht verhandelt. Lediglich die Themenschwerpunkte stehen fest: Nachhaltigkeit, Menschenrechte, globalisierte Kultur, Zivilgesellschaft und Friedensarbeit. Auf den Podien werden unter anderen Prominente wie die US-Schauspielerin Susan Sarandon, die indische Philosophin Radha Kumar, der amerikanische Politologe Noam Chomsky oder auch die iranische Regisseurin Samira Makhmalbaf sitzen.

Wie es nach dem Megaevent weitergehen soll, diskutierten bis gestern Abend die Mitglieder des Internationalen Rates, mit mittlerweile über 100 Organisationen aus aller Welt das höchste Gremium des Weltsozialforums. In seinem Selbstverständnis ist das Forum ein „offener Raum“, in einem „andauernder Prozess der Entwicklung von Alternativen“ begriffen, wie es in den WSF-Prinzipien heißt. Unter diesem breiten Schirm haben viele Platz: Altlinke, Menschenrechtler, NGO-Lobbyisten, soziale Bewegungen, Gewerkschaften, Ökologen, Anarchisten, Entwicklungspolitiker, Christen und Anarchisten. Zum „Geist von Porto Alegre“ gehört, dass man Differenzen behutsam oder oft gar nicht austrägt – einen „unausgesprochenen Nichtangriffspakt“ nennt das Manuel Monereo von der spanischen Vereinigten Linken. Deshalb gibt es auch prinzipiell keine offizielle Abschlusserklärung.

Debatte der weißen Männer

Die alljährlich verabschiedeten „Mobilisierungsaufrufe der sozialen Bewegungen“ bestehen in einer Aufzählung der Übel dieser Welt, gegen die man angehen will: Neoliberalismus, imperialistische Kriege, Verschuldungskrise, Umweltzerstörung. Die Aktivisten reproduzieren die Diskursmuster aus ihren Szenen und Heimatregionen. Über die antikapitalistische Ausrichtung herrscht in Lateinamerika zumindest auf der rhetorischen Ebene Konsens: US-Aktivisten kritisieren die „von den Multis angetriebene Globalisierung“, Umweltschützer fordern eine „nachhaltige Entwicklung“, Kleinbauernverbände „Ernährungssicherheit“.

Von meist weißen älteren Männern wird die aktuelle Strategiedebatte dominiert. Die „große Frage des kommenden Jahrzehnts“ sieht etwa der US-Historiker Immanuel Wallerstein darin, „ob das Weltsozialforum sich auf eine klareres, positives Programm zubewegen kann“, ohne dabei auf eine „notwendigerweise hierarchische Struktur“ zurückzugreifen. Der brasilianische Soziologe Emir Sader wird deutlicher: „Bisher ist es uns nicht gelungen, unsere Stärken in eine politische Kraft umzusetzen, durch die die herrschende neoliberale Politik effektiv behindert werden kann.“

von KATHARINA KOUFEN

Es hat sie schon gegeben, die historischen Momente, da blickte die ganze Welt auf den schweizer Bergort Davos. Zum Beispiel 1992, als Nelson Mandela und der südafrikanische Apartheidspräsident Frederik de Klerk sich auf dem Weltwirtschaftsforum trafen. Oder 1994: Arafat und Peres reichen sich vor verschneiter Alpenkulisse die Hände. Auf solche politischen Highlights verweist Klaus Schwab (64), Präsident des Weltwirtschaftsforums, wenn er nach der politischen Bedeutung „seines“ Forums gefragt wird.

Imageverlust der Bosse

Keine Frage, der Mann ist mächtig stolz auf das, was er vor 32 Jahren ins Leben gerufen hat. Damals als informelles Managertreffen gedacht, ist Davos heute ein hochkarätig besetztes Weltereignis. Rund 2.000 Gäste erwartet der gebürtige Schwabe in diesem Jahr: Manager, Politiker und Medienbosse. Doch die politische Bedeutung, die Schwab seinem Forum zuschreibt, ist nicht für alle Teilnehmer nachvollziehbar. „In letzter Zeit hatten die Treffen keine große politische Signalwirkung mehr“, meint etwa Christoph Rabe, Wirtschaftskorrespondent beim Handelsblatt.

Das hat mehrere Gründe: Zum einen haben sich die Foren seit Mitte der 90er-Jahre durch eine permanente Fehleinschätzung der wirtschaftlichen Entwicklung diskreditiert. 1997 zum Beispiel brach die Asienkrise aus – und keiner der Davoser Wirtschaftsexperten hat davor gewarnt. 1999 jubelte man über einen starken Euro – und die neue Währung geriet prompt in einen Abwärtstrend, der mehr als zwei Jahre anhalten sollte. Im Jahr 2000 wurde gar eine „Transformation der globalen Wirtschaft durch die New Economy“ vorhergesagt – eine glatte Fehleinschätzung, wie sich bald herausstellte.

Zum anderen hat die Unternehmerschaft einen Imageverlust erlitten. Stars von gestern outeten sich als Betrüger – wie EM-TV-Chef Thomas Haffa und Percy Barnevik von ABB. Oder Kenneth Lay, der ehemalige Chef des US-Energieriesen Enron. Ausgerechnet er hielt noch vor zwei Jahren eine Rede über „die Bedeutung der Geschäftsbeziehungen“. Jetzt sitzt er in Untersuchungshaft: Er hat seine Geschäftsbeziehungen gründlich missbraucht.

Und schließlich ist das elitäre Forum in den letzten Jahren in die Kritik geraten, weil es für prätentiös formulierte Themen nichts zu bieten hatte als banale, unverbindlich formulierte Lösungen. Tatsächlich drängt sich die Frage auf, was die 2.000 Teilnehmer in ihren mehr als 250 Workshops, Podiumsdiskussionen und Abendessen eigentlich machen, wenn am Schluss Ergebnisse wie in den Vorjahren herauskommen wie: „Erziehung hilft als Schlüssel für mehr Bewusstsein“ als Antwort auf die „Herausforderungen an eine neue Generation“.

Dieses Jahr steht Davos unter dem Motto „Vertrauen bilden“. Angesichts prominenter Gäste wie US-Außenminister Colin Powell und Brasiliens Präsidente Lula da Silva ist das Vertrauen in deren Sicherheit gering: Das Treffen findet unter strengen Sicherheitsvorkehrungen statt.

Die Davos-Euphorie hat sich etwa zeitgleich mit der allgemeinen Wirtschafts-, Finanz- und Börseneuphorie entwickelt. „Ende der 90er-Jahre hieß es in Davos immer wieder, die Politik hinke der Wirtschaft meilenweit hinterher“, erinnert sich Rabe. „Damals war alles, was mit Wirtschaft, Finanzen und Aktien zu tun hatte, en vogue – und das Treffen wurde zum großen Medienspektakel.“ Dass Davos auch ein „Forum für die Selbstdarstellung seiner Teilnehmer geworden ist“, moniert Markus Mugglin vom Schweizer Radio DRS.

Davos – einer reines PR-Event? Nein, protestiert nicht nur Klaus Schwab, auch wenn er sich ohne die 400 Medienvertreter „wohler fühlen“ würde, wie er kürzlich in einem Interview zugab. Schwab verweist aber neben den politische Highlights auch auf die unentbehrlichen Kontakte, die auf seinem Treffen entstehen. „Networking“ heißt das offiziell, man könnte es auch „Klüngel“ nennen.

Themenkatalysator Davos

Nein, sagt auch Paul Spahn, Wirtschaftsprofessor in Frankfurt, der 2002 zur Vorbereitung des Forums nach Davos geladen war. „Davos ist hervorragend geeignet, bestimmte Themen loszutreten.“ Und das funktioniert so: Im Vorfeld des Treffens werden Experten nach Davos geladen. Dort wird diskutiert, ob das Thema schon reif ist. Wenn ja, „wird einer ausgesucht, der das in seiner Rede dann anspricht“, erklärt Spahn.

So geschah es im letzten Jahr mit dem Appell von UN-Generalsekretär Kofi Annan, die reichen Länder sollten ihre Entwicklungshilfe verdoppeln. Spahn war 2002 zum Thema Tobin-Steuer befragt worden, doch die wurde für „noch nicht reif“ befunden. „Davos hätte sich nur blamiert“, meint Spahn. Dafür wären Herr Schwab und seine Leute mit Sicherheit um einen historischen Moment reicher geworden.