: Im Waggon zurück in die Vergangenheit
Die Jugendgeschichtswerkstatt konfrontiert am Holocaust-Gedenktag S-Bahn-Fahrgäste mit Fragen nach der Situation der Juden im Nazi-Berlin
von FABIAN GRABOWSKY
Mit einem solchen Quiz hatten die Fahrgäste der S-Bahn-Linie 3 nach Erkner nun wirklich nicht gerechnet: „Wie kam der Jude Max Herrmann im Juni 1942 vom Bahnhof Zoo in die Staatsbibliothek Unter den Linden?“, wird gefragt. Oder: „Wie viele Juden lebten 1933 in Deutschland?“ Sie hätten es ahnen können, schon vom Bahnsteig aus fiel einer der Waggons auf, durch seine beschlagenen Scheiben, durch das Gedränge innen und durch Plakate außen mit dem Slogan: „Wer einem Menschen seine Würde nimmt, verliert seine eigene.“
Eingestiegen waren sie in die „Fahrende Ausstellung“ des deutsch-jüdischen Vereins Miphgasch/Begegnung e. V. und der Jugendgeschichtswerkstatt, die am Montag anlässlich des bundesweiten Holocaust-Gedenktages durch Berlin rollte. In einem S-Bahn-Waggon, weil das Verbot für Juden, öffentliche Verkehrsmittel für private Zwecke zu nutzen, ab 1942 zu den alltäglichen Schikanen gehörte, erläutert Projektleiterin Franziska Ehricht. Ursprünglich hatte der Verein dafür am Anhalter Bahnhof einen ausrangierten Waggon benutzt. Der wurde aber 1999 in Brand gesteckt. „Dann haben wir uns gedacht: Gehen wir zu Menschen, an einen alltäglichen Ort“, erklärt Ehricht.
An diesem alltäglichen Ort werden nun Quizbögen mit zwölf Fragen verteilt. Zu gewinnen gibt es für die Fahrgäste nichts – außer Nachdenken und Wissen. Plakate mit Dokumenten und Zitaten aus der Zeit der nationalsozialistischen Judenverfolgung hängen an den Waggonwänden, und Texte von Zeitzeugen werden gelesen. Begleitet wird die Fahrt von Schulklassen und Jugendgruppen. Auch brasilianische Studenten habe sich angemeldet.
Die 17-jährige Franziska Gapler und die 16-jährige Aila Wolff verteilen die Quizbögen. Seit längerem engagieren sie sich freiwillig in der Jugendwerkstatt. Sie wollen damit das Verständnis zwischen Deutschen und Juden, vor allem aber die Aufarbeitung der gemeinsamen Vergangenheit fördern. „Ich finde es wichtig, zu erinnern, damit nicht vergessen wird“, betont Gapler.
Eine Schulklasse des Tegeler Gabriele-von-Bülow-Gymnasiums hat eigens für den Besuch der Fahrenden Ausstellung freibekommen. Die Reaktionen der Schüler sind positiv. Nur zehn Minuten habe er für die zwölf Fragen gebraucht, sagt der 15-jährige Kevin Kuptz. „Aber bei einigen Antworten war ich schon überrascht.“ Zum Beispiel dass 1933 nur 0,3 Prozent der deutschen Bevölkerung Juden waren. Oder dass der Jude Max Herrmann 1942 nur zu Fuß und durch Nebenstraßen zur Staatsbibliothek gelangen konnte, weil ihm das Betreten von Parkanlagen oder die Benutzung eines Fahrrads verboten war.
Kevins Geschichtslehrer Günter Jennem hält den Ausflug für eine sinnvolle Ergänzung zum Unterricht: „Eine sehr aufschlussreiche Ausstellung, alles wird sehr anschaulich, die Schüler werden durch das Quiz gezwungen, sich mit dem Thema auseinander zu setzen.“ Er selbst lässt den Fragebogen jedoch unausgefüllt, nimmt ihn nur als Anschauungsmaterial mit.
Auch zufällig mitfahrende Passagiere zeigen sich angetan. „Cool“ finde er die Aktion, sagt der 22-jährige Wieland Wehr. Auch wenn er einiges nicht gewusst habe. Etwa dass 2.000 gesetzliche Maßnahmen gegen Juden verabschiedet wurden.
Der 74-jährige Holocaust-Überlebende Werner Voss ist von der Jugendwerkstatt als Zeitzeuge eingeladen worden. Er überlebte den Nationalsozialismus mit seiner Familie im Untergrund, versteckt in der Zweizimmerwohnung einer Bekannten in Moabit. „Die einzige gesamte Familie, die im Untergrund überlebt hat“, betont Voss. Und das 500 Meter von der Berliner Hauptdeportationsstelle, in der Nachbarwohnung der Blockwart, im Haus gegenüber der Ortsgruppenleiter – „der größte Nazi im gesamten Bezirk“.
Die dreißig Gymnasiasten lauschen gebannt, stellen Fragen nach dem Überleben in Bombennächten, nach dem geheimen Leben in einem Zimmer und nach der riskanten Versorgung einer Familie im Untergrund. Abschließend gibt Voss einen Judenstern in die Runde: „Der letzte, den ich tragen musste.“
Franziska Ehricht ist mit dem Verlauf der Aktion zufrieden. „Ausgesprochen positiv“ seien die Reaktionen der Fahrgäste gewesen. Zwar habe es wie immer auch Menschen gegeben, die schroff auf Quiz und Ausstellung reagierten – vielleicht, weil ihnen ihr Unwissen peinlich gewesen sei. Der Großteil der Fahrgäste sei aber interessiert gewesen. Und auch eine Sorge habe sich nicht bestätigt: „Nichts ist passiert.“ Dass man sich da nicht so sicher war, ist kaum zu übersehen: Zwei Mitarbeiter des S-Bahn-Sicherheitsdienstes begleiteten die Ausstellung während des ganzen Gedenktags.