: Die unsichtbaren Ketten des Herrn K.
Mein Kafka, dein Kafka, Kafka ist für alle da: Erkundungen im gegenwärtigen kleinen Hype um den großen, armen Prager Autor – von einem Restaurant über den Experimentalfim „Ka.F.ka. Fragment“ bis hin zu Reiner Stachs umfassender Biografie
von DIRK KNIPPHALS
An vieles mag man denken, wenn man den Namen Kafka hört – und man hört ihn derzeit mal wieder recht häufig. Ans Essen denkt man sicherlich erst mal nicht.
Nur in Kreuzberg ist das anders. Die „Gaststätte Kafka“, Bar und Restaurant, liegt am Ende der Oranienstraße im Berliner Alternativbezirk. Als Enblem leuchtet der berühmte Namenszug blutrot und schwarz durch die Kreuzberger Nächte: das K wie ein Trompetenstoß, die anderen Buchstaben wie nur zur Ergänzung dahinter gesetzt, darunter ein energischer Strich. Super sieht das aus. Nur: Was macht die Namensgebung für einen Sinn, übers Dekorative hinaus?
Vielleicht soll ein schweres kulturelles Zeichen in dieser multikulturellen Gegend für die Sache des Deutschsprachigen Distinktionsgewinne erzielen? Dieser zunächst aufkeimende Verdacht verfliegt schnell; in der „Gaststätte Kafka“ gibt man sich international, sowohl bei der Bedienung wie auch bei der Speisenauswahl. Auch sonst fällt das Kulinarische als Sinnstifter aus. An dem sonntäglichen „Familien-Schlemmer-Menü“ (17,50 € pro Person, Pasta für die Kinder frei) hätte der Namensgeber jedenfalls nicht viel Freude gehabt. Franz, nimmst du auch das Familien-Schlemmer-Menü? Nicht auszudenken, was K. nach so einem kulinarischen Familienausflug für Albträume auszustehen gehabt hätte.
Bietet sich nur an, an eine inhaltliche Aushöhlung des Markennamens Kafka zu denken, die inzwischen auch möglich geworden zu sein scheint. Was bemerkenswert ist. Schließlich stößt man – zumindest außerhalb Kreuzbergs – immer noch auf eher nicht so spielerische Klischees, die dieser Autor wohl sowieso nicht mehr loswird. Wer etwa eine Vorführung des gerade angelaufenen Experimentalfilms „Ka.F.ka. Fragment“ auf sich nimmt, kann versucht sein, die Lizenz zum Pathos nachgerade zu verfluchen, die manche Menschen offenbar immer noch mit Kafka verbinden.
Der Film ist so prätentiös wie sein Titel. Ein Schauspieler schreibt eineinhalb Stunden lang zunehmend manisch Zettel voll; eine Schauspielerin beobachtet ihn dabei distanziert, voilà: Franz Kafka und seine zweimalige Verlobte Felice Bauer als Untote, die voneinander nicht lassen können – wobei es die Filmemacher an bedeutungsschwerer Musik und verwackelten Kamerabildern nicht fehlen ließen. An inhaltlichem Zusammenhang aber schon – ist eh alles fragmentarisch. Friss die Bilder oder stirb, Zuschauer! Das volle Avantgardeprogramm.
„Etwas teile ich jedenfalls mit Kafka und Musil: Wir haben alle drei keine eigentliche Biografie; wir haben gelebt und geschrieben, das ist alles“, so hat Kafkas Autorenkollege Hermann Broch einmal das größte aller Kafka-Klischees formuliert – gleichzeitig signalisierend, dass es eingebunden ist in eine Beschreibung, auch Selbstbeschreibung der Schriftsteller in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Gegen genau dieses Bild des lebensuntüchtigen, der Normalität entsagenden Schriftstellers geht die Literaturwissenschaft nun schon seit Jahrzehnten an. Allen voran natürlich der Verleger Klaus Wagenbach, der es sich zu einer Lebensaufgabe gemacht hat, die Realität von Kafkas Arbeitsumfeld auszuleuchten (zuletzt in der Ausstellung „Kafkas Fabriken“ im Literaturinstitut in Marbach, der Katalog ist erschienen als Marbacher Magazin 100/2002).
Allein, die Klischees sind nicht nur zäh, sie haben längst auch ein Eigenleben entwickelt. Da hilft es auch nichts, dass sich die Klischeeentlarvung im Falle Kafkas längst zu einem veritablen Germanistensport entwickelt hat. Eine der verblüffendsten Vorführungen dieser Disziplin dürfte übrigens ein Aufsatz in der in diesen Tagen erscheinenden Ausgabe der Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter sein. Alena Wagnerova erläutert darin die unerhörte These, dass Kafkas Vater wohl nicht so tyrannisch war, wie Kafka selbst ihn beschrieben hat – was vermutlich aber auch zukünftige Kafka-Leser nicht darin hindern wird, sich aus diesem Werk mit Bildern für den eigenen Generationenkonflikt zu munitionieren.
Kann gut sein, dass wir gegenwärtig Zeuge einer fortschreitenden Ausdifferenzierung sind: Die Liebhaber, die uns den wahren Kafka näher bringen wollen, werden weitermachen. Die Klischeeentlarver werden weitermachen. Die Kafka-Klischees werden aber auch weitermachen. Würde man sie vielleicht sogar vermissen? Dass es sozusagen lieb gewordene Vorurteile gibt, hat in aller Deutlichkeit der Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel in der Januar-Ausgabe der Zeitschrift Literaturen formuliert, die Kafka einen Schwerpunkt widmet. Ganz egal, was die „neuere Kafka-Forschung“ sagt, er möchte, schreibt Treichel, „seinen Kafka“ behalten: „Mein Kafka jedenfalls hatte niemals an irgendetwas eine Freude gehabt.“ Stimmt natürlich überhaupt nicht. Aber immerhin haben wir es hier – mein Kafka, dein Kafka, Kafka ist für alle da – mit einer Kafka-Klischee-Mumifizierung zu tun, die sich selbst aufgeklärt ist.
Eine Sache gibt es allerdings, die sich grundlegend und wohl unumkehrbar geändert hat, wie man auch in Literaturen nachlesen kann: Als idealtypisches Rollenmodell für eine Schriftstellerexistenz – allerlei Leiden sowie Doppelleben zwischen Brotberuf und eigentlicher Arbeit inklusive – hat der arme Franz K. inzwischen ausgedient. Das sozusagen gelingende Scheitern, für das dieser Autor wie kein anderer steht, hat seinen Glanz verloren.
Dafür ist Kafka aber offenbar zum Symbol für einen gelingenden Leseakt überhaupt geworden, zum Gewährsmann für den seltsamen Vorgang, dass man im Grunde nur Buchstaben in sich aufnimmt, in Wirklichkeit aber dabei ganze Abenteuer zu bestehen hat. Das Befremdende, das Beunruhigende, das Ergreifende, das manchmal auch gewaltsam Packende dieses Vorgangs zu beglaubigen, dafür steht Franz K. ein – oder in seinen eigenen Worten: Man fühlt sich „mit unsichtbaren Ketten an eine unsichtbare Literatur gekettet“.
Dieses Gefühl beschreiben viele der von Literaturen befragten Autoren, durchaus als Glücksgefühl oder als Gefühl der schönen Verwunderung. Gelegentlich tritt in dem Heft ein „Du musst dein Leben ändern“-Tremolo hinzu. Am drängendsten bei Annette Pehnt: „Die kargen eindringlichen Bilder, die ich damals nur in Schwarzweiß vor mir sah, begannen zu pochen und verliefen ineinander … Damit einher ging für mich der Tod der Geschwätzigkeit.“ Der Glanz ist also sozusagen von der Produktions- auf die Rezeptionsseite hinübergewechselt: Dass Wörter Macht über einen haben können, ohne dass man genau weiß, weshalb und wozu, das zeigt sich an Kafka. Last night Franz Kafka changed my life.
Das ist eine komplex mit dem eigenen Selbstverständnis verschachtelte Verehrung, zu der der nun vorliegende 674-Seiten-Kafka-Ziegelstein, Mittelteil der von Reiner Stach auf drei Bände konzipierten Biografie, in einem verwickelten Verhältnis steht (Fischer-Verlag, Frankfurt a. M. 2002, 29,90 €). Dies ist unbedingt eine Biografie für Kafka-Fans, guter Stoff für alle diejenigen, die die Geschmeidigkeit und Direktheit der Kafka’schen Sprache immer wieder in schieres Staunen versetzt.
Vor allem die „Briefe an Felice“, das Basismaterial des Biografiebandes, bieten natürlich gehäuft Anlass für schiere Bewunderung – mit kleiner Hilfe von Reiner Stach: So kenntnisreich und umfassend geht er den Tendenzen dieser Briefe nach, gleichsam von selbst von der konkreten Beschreibung alltäglicher Gedanken ins Literarische abzuheben.
Zugleich aber unterläuft seine Biografie den Hang zum Literaturbeflissenen oder gar -gläubigen. Konsequent setzt Reiner Stach die von Klaus Wagenbach vorgegebene Linie fort, Kafka gleichsam zu erden. Er betreibt ein philologisches Abkühlungsprogramm, das zwar auch nicht ganz ohne die rhetorischen Unterwerfungsfloskeln auskommt – Stach: „Kafka lehrt Bescheidenheit“ –, sich ansonsten aber von seinem Gegenstand nicht einschüchtern lässt. Und siehe: Die notorischen Großerzählungen, die bei diesem Autor Regalmeter auf Regalmeter füllen – à la „Der paradigmatische Schriftsteller der Moderne“ oder, auch beliebt, „Der genuine Autor der Entfremdung“ –, kommen einem plötzlich ziemlich hohl vor. Das in diesem Zusammenhang sonst übliche Pathos sowieso.
Zu registrieren ist also folgende Verschiebung: Vor der Lektüre hat man sich die jahrelange Arbeit an diesem Buch eher als mönchisches Projekt, ja sogar als Fron vorgestellt. Hinterher aber herrscht der Eindruck vor, dass es sich um eine recht vergnügliche Tätigkeit gehandelt haben muss. Wozu beiträgt, dass Reiner Stach ein Biograf ist, der für die humorvollen Seiten dieses Schriftstellers einen Sinn hat. Und wer ihn je auf einem Podium gesehen hat, dürfte die Ansicht mitgenommen haben, dass sich hier jemand wirklich für seinen Gegenstand interessiert.
So kann man jede Wette eingehen, dass die Klischees weiterbestehen. Man kann mit Reiner Stach, der die Wendung gegen die Klischees ohne auftrumpfende Gesten gelungen popularisiert hat, inzwischen aber auch wissen, dass Kafka etwa konkrete Pläne hatte, sich als freier Schriftsteller in Berlin niederzulassen – um „das aus mir herauszubringen, was ich in Prag zwischen innerer Schlaffheit und äußerer Störung in dieser Deutlichkeit, Fülle und Einheitlichkeit nicht erreichen könnte“. Das hört sich doch – hallo, Herr Treichel – zumindest nach Vorfreude an. Da kam dann nur der Erste Weltkrieg dazwischen, eine Ausreise aus Prag war nicht mehr möglich.
Der „Vorspeisenteller Kafka“ in der Oranienstraße hat übrigens eher mit italienischer Kulinarik zu tun: eingelegtes Gemüse, Parmaschinken, Tomate mit Basilikum auf Mozzarella. Er ist gar nicht mal schlecht.