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Archiv-Artikel

„Anti-vampirisch Blut reinpressen“

August Lafontaine war DER deutsche Bestsellerautor um 1800. Heute ist er fast vergessen. Zum 250. Geburtstag des Schriftstellers erklärt der Braunschweiger Literaturwissenschaftler Cord-Friedrich Berghahn, warum Lafontaine so erfolgreich war – und warum wir ihn wieder lesen sollten

INTERVIEW DANIEL WIESE

taz: Herr Berghahn, warum versuchen Sie, mit August Lafontaine einen Bestsellerautor des 18. Jahrhunderts zu rehabilitieren?

Cord-Friedrich Berghahn: Nun, wir wollen ihn nicht auf einen Sockel mit, sagen wir: Hölderlin oder Goethe oder Tieck stellen. Aber es gibt da doch einiges, was interessant ist.

„Sein ursprünglich hübsches, gefällig und leicht darstellendes Talent“, steht bei Wikipedia, „verflachte er durch Vielschreiberei.“

So was steht seit 100 Jahren in jeder Literaturgeschichte. Lafontaine war ein Autor, der sich als einer der ersten Schriftsteller überhaupt den Gesetzen des Marktes ausgeliefert hat. Er hat getan, was Lessing und andere auch gerne getan hätten. Lessing hat es versucht und ist am Schluss tragisch gescheitert, ist auf die Bibliothekarsstelle nach Wolfenbüttel gegangen.

Und Lafontaine hatte es geschafft?

Lafontaine war nach den Berechnungen von Dirk Sangmeister, dem Lafontaine-Experten, so etwas wie ein Millionär. Man kann von einer Leserschaft ausgehen, die allein in Deutschland in die Millionen ging; Sangmeister hat eine „legale“ Gesamtauflage von 120.000 gedruckten Büchern errechnet und wenn man dazu noch die illegalen Nachdrucke rechnet, die für die Zeit vor dem Urheberschutz typisch sind…

Das waren vor allem Liebesromane, oder? Schnulzen?

Schnulzen würde ich nicht sagen. Es sind empfindsame Romane. Lafontaine hat ein Romanmodell, das stammt aus der Zeit um 1770, aus der Werther-Zeit also, der Zeit, in der Wieland seine großen Romane schreibt. Es ist ein Modell, in dem die Mitteilung von Gefühlen im Zentrum steht. Und an diesem Modell hält er unbeirrbar fest. Bis zum Schluss. Er trivialisiert dieses Modell unter dem Druck des Marktes, schreibt es aus – und schreibt auch noch, als er eigentlich gar keine Lust mehr dazu hat. Ein guter Indikator ist, dass er 1822 eine Pfründe erhält, er ist ja Geistlicher gewesen…

Hochzeitsprediger, nicht wahr?

Nein, er war Militärgeistlicher, Feldprediger um genau zu sein. Aber er hat, um Geld zu verdienen, nebenher Trauungen vollzogen und Taufen. Als Feldprediger war er auf dem selben Feldzug 1792 in Frankreich, auf dem auch Goethe war und hat dort ähnlich grausame Szenen erlebt wie die, die Goethe in der „Kampagne in Frankreich“ beschrieben hat. Lafontaine war verheiratet und bekam als Feldprediger nicht genug Geld, um für sich und seine Frau sorgen zu können. So hat er auf dem Feldzug angefangen, im großen Stil zu schreiben.

Wie viel hat er denn geschrieben?

Er hat über fünfzig, meist sehr umfangreiche Romane geschrieben, dazu mehr als 30 Bände Erzählungen und er war als Journalist und Dramatiker tätig. Sie haben ja wahrscheinlich gesehen, dass jetzt bei 2001 jetzt der „Quinctius Heymeran von Flaming“ in einer wunderbaren Neuausgabe durch Dirk Sangmeister erschienen ist. Allein dieser Roman hat netto 1.200 Seiten, und das in der gekürzten Fassung von 1798.

Warum sollte man Lafontaine heute noch lesen?

Viele seiner frühen Romane sind wirklich interessant, weil sie die für die Menschen um 1800 entscheidenden Themen abhandeln: die Frage des Sprechens und Schreibens über Gefühle, die Thematik des Exils, dann die Frage der angeblichen Ungleichheit der Rassen, gegen die der „Quinctius Heymeran“-Roman Sturm läuft. Zu den wirklich tollen Texten gehört der antiquarisch leicht zu habende, in den 1980er Jahren aufgelegte „Klara du Plessis und Klairant“, eine, wie es im Untertitel heißt, „Familiengeschichte französischer Emigrierten“. Es geht darum, wie sich die Emigration in die Schicksale einschreibt.

Warum beschäftigen Sie sich in Braunschweig mit Lafontaine? Er ist dort geboren, aber gewirkt hat er doch in Halle.

Man muss sich klar machen, wann er nach Halle geht, nämlich ziemlich spät, 1786, da ist er schon fast 30 Jahre alt. Das heißt, er hat seine intellektuelle Prägung vollkommen in der braunschweigischen spätaufklärerischen Kultur erhalten, die sich hier am Collegium Carolinum konzentrierte, dem Vorgänger der TU Braunschweig.

Aber geschrieben hat er erst, als er weg war.

Geschrieben hat er erst spät, nachdem er hier als Hofmeister und Hauslehrer sich durchgeschlagen hat, dann eben unter dem wirtschaftlichen Druck als Feldprediger im Infanterieregiment von Thadden nach 1789.

Was war Lafontaine für ein Typ?

Er war offenbar ein sehr freundlicher, dicklicher, gemütlicher, warmherziger, angenehmer Zeitgenosse, der sich in keinerlei Querelen eingelassen hat. Er war gebildet, man merkt den Romanen an, dass er das kanonische Repertoire von 1750 bis 1770 drauf hat. Bestimmte Muster die er vorfindet, das Wieland’sche Bildungsroman-Muster, das humoristische Muster von Lawrence Sterne, die Vorstellung des unendlichen Briefromans, die er bei Rousseau finden kann: Diese Modelle schreibt er aus, er entlehnt sich sogar Motive und formt sie höchst eigenständig um.

Sie klingen ja richtig begeistert!

Bin ich auch, vielleicht eine deformation professionelle. Aber ich versuche natürlich auch, etwas anti-vampirisch, Blut wieder reinzupressen.

Und deswegen haben Sie jetzt einen Lafontaine-Kongress in Braunschweig organisiert?

Organisiert habe ich ihn gemeinsam mit Dirk Sangmeister von der Universität Nicosia in Zypern. Wir haben uns gedacht: Wir wissen ziemlich gut, was die Leute gelesen haben, worauf sie offenbar angesprungen sind. Das ist interessant, weil es zeitgleich zur explosiven Entfaltung der Poetik der Reflexivität geschieht. In dem Moment, wo der Roman bei Friedrich Schlegel, bei Goethe und bei Hölderlin zum Organon der Philosophie mutiert, in diesem Moment kommen ganz hohe Hoffnungen, die nicht nur literarisch sind, sondern geschichtsphilosophisch. Das ist eine funktionale Überbelastung, die die Leserinnen und Leser nicht mitgemacht haben. Die wollten und wollen den realistischen Roman, ich nenne das jetzt mal realistisch, was bei Lafontaine passiert: den Roman, der eine gewisse therapeutische Funktion einnimmt, der psychologisch linear funktioniert, der nicht über das Medium Roman reflektiert, sondern eine Geschichte erzählt.

Und warum ist Lafontaine heute vergessen?

Eine entscheidende Lehre, die man aus der Beschäftigung mit Lafontaine ziehen kann, ist: Wen die Literaturtheorie verlässt, der ist spätestens dann verlassen, wenn seine Leserinnen und Leser sterben. Lafontaines Karriere dauert bis 1850. Bis dahin ist er der meistgelesene Autor in der deutschen Leihbibliothek.

Fotohinweis:DR. CORD-FRIEDRICH BERGHAHN, 39, ist wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Germanistik der TU Braunschweig. Er forscht zur deutsch-jüdischen Aufklärung.