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Archiv-Artikel

Verschreckt und verwirrt

Seit zweieinhalb Jahren ist die rot-grüne Koalition ohne jede politische Perspektive. Sie ist das begründungsloseste Regierungsbündnis seit Bestehen der Bundesrepublik

Die SPD braucht jemand, der ihr ein paar Prinzipien und Perspektiven zurückgibt

Da liegt die SPD nun im Staub. Die Wahlergebnisse und das Medienecho dürften die sowieso schon reichlich verunsicherten Sozialdemokraten noch weiter verschrecken und verwirren. Die Kanzlerleute werden die Reformrhetorik reaktivieren, die gewerkschaftsnahen Traditionstruppen eben das lautstark verdammen; die Restlinken werden wieder einmal von neuen Visionen murmeln, und zwei oder drei einst prominente und nunmehr lediglich sentimentale Sozialdemokraten werden tatsächlich erneut flammende Plädoyers für die Reintegration des Oskar Lafontaine halten.

Kurzum: Das politische Theater in der deutschen Republik inszeniert also wieder einmal das sozialdemokratische Drama „SPD am Ende?“. Sehr aufregend ist das nicht, denn am Wahlsonntag hat sich keine so außergewöhnliche Sensation abgespielt, wie es jetzt überall heißt. Dergleichen hat die Republik in den gut fünfzig Jahren ihrer Geschichte schon mehrere Male erlebt. Zu Beginn ihrer zweiten Legislaturperiode fallen die gerade noch wiedergewählten Kanzlerparteien in schöner Regelmäßigkeit in tiefe und üble Depressionen. So war es schon unter Adenauer, Erhard, Brandt, Schmidt oder Kohl.

Denn der Schwung des Anfangs ist zu Beginn der zweiten Runde längst perdu, die wiedergewählten Kanzler sind müde, die Minister ausgebrannt. Vor allem: Das Koalitionsprojekt ist im Großen und Ganzen bereits abgearbeitet. In unserer mediengesellschaftlichen Zeit geht alles nur noch ein bisschen rüder, schriller und schrecklicher zu. Der rasche Kräfteverschleiß bei den Regierenden hat über die Jahrzehnte erheblich zugenommen. Und die Wähler strafen gnadenloser ab denn je.

Hinzu kommt diesmal, dass Rot-Grün früher als jede andere Regierungsallianz zuvor nicht mehr wusste, was sie eigentlich wollte. Denn im Kern war Rot-Grün nie ein politisches Projekt. Es war vorwiegend eine kulturelle Attitüde, ein Generationsausdruck, ein Lebensgefühl. Das aber setzte sich gesellschaftlich schon in den 1980er/90er-Jahren weitschichtig durch. Was rechtlich davon noch in einzelnen Fällen sanktioniert werden musste, geschah im ersten Kabinett Schröder/Fischer durchaus früh und zügig. Aber seither, seit etwa zweieinhalb Jahren, ist Rot-Grün ohne politische Plattform und Perspektive. Und im ganzen langen Wahljahr 2002 konnten weder Rote noch Grüne in irgendeiner Weise deutlich machen, was sie diesseits eines gemeinsamen Lebensgefühls politisch noch antrieb und weshalb ausgerechnet ihre sozial verengte Allianz aus hauptsächlich öffentlich Bediensteten zur großen Reform der Gesellschaft taugen sollte. Aus dieser tiefen politischen Leere resultierte das sprachlose Wirrwarr der Bundesregierung seit dem Herbst 2002.

Es ist der Fluch dieser Generation: In den 1970er-Jahren kokettierte sie mit einigen dogmatischen Ideologien, in den 1980er-Jahren setzte sie sich davon flott und ironisch ab. Und in den 1990er-Jahren glaubte sie an nichts mehr. Derart normativ unbehaust kam sie an die Macht – und das mit acht Jahren Verspätung, da ihr die deutsche Einheit den schönen Zeit- und Karriereplan durchkreuzt hatte. Die rot-grüne Regierungsgeneration also kam zu spät, daher schon ermattet, ausgelaugt, mittlerweile ohne feste Prinzipien, ohne den kristallin-harten Überzeugungskern, den man wohl braucht, um Politik kraftvoll und trotz aller taktisch raffinierten Umwege auch zielorientiert zu betreiben.

In Schröder kulminierte diese Grundsatzindifferenz der Politik, bündelte sich das Unvermögen, all die oft ja durchaus imponierenden Winkel- und Schachzüge einer beinharten Machtpolitik auf eine Grundphilosophie zurückzuführen, auf eine Werteprämisse und einen strategischen Fluchtpunkt. Rot-Grün, die Formation der früheren Diskursgeneration, hat genau diese Stärke eingebüßt. Es ist in gewisser Weise das sinn- und begründungsloseste Regierungsbündnis seit Bestehen der Bundesrepublik.

Im Kern war Rot-Grün nie ein politisches Projekt. Es war primär eine kulturelle Attitüde, ein Lebensgefühl

In alledem liegt die Tragödie des ungewöhnlich begabten Sigmar Gabriel. Häufig hörte man in den letzten Wochen: Gabriel hat die Methode Schröder imitiert. Genau genommen war es die Methode Lafontaine, der schon in den frühen 80er-Jahren damit begann, was Schröder für sich allein in den 90er-Jahren erfolgreich zum Abschluss brachte. Man schert von Fall zu Fall provokativ aus der Parteiräson aus, bricht einige Tabus der Parteikonvention, kümmert sich nicht groß um Gremien, Institutionen, Beschlusslagen der eigenen Partei, spielt sein eigenes Spiel. Und man bringt das alles mit viel Trara in die Medien.

Vor 20 Jahren war diese Methode zweifellos ganz neu, sehr aufregend, wirklich originell. Und sie war angesichts einer ziemlich doktrinären, apparathaft versteinerten, höchst unflexiblen sozialdemokratischen Partei vielleicht sogar nötig und nützlich. Aber mittlerweile gibt es die programmatisch überladene, von ideologielastigen Funktionären beschwerte, durch die Dominanz von Parteivorständlern blockierte Partei und Politik gar nicht mehr. Jetzt ist die SPD vielmehr leer, ohne Ethos und Entwurf, ohne interessierte Führung. Die Sozialdemokraten brauchen daher nicht den wiederholten vermeintlichen Tabubruch. Sie brauchen jemand, der ihnen ein paar Prinzipien und Perspektiven zurückgibt, der ihr Selbstbewusstsein und ihre Souveränität wiederherstellt, ja: der sie ernst nimmt, sie wieder mobilisierungs- und kampagnenfähig macht.

Die SPD ist, noch verhalten und latent, auf der Suche nach dem neuen Leitwolf. Aber Leitwolf kann dort nur werden, der den Sozialdemokraten zurückvermittelt, was ihnen Schröder über ein Jahrzehnt alles genommen hat. Der neue Leitwolf muss wenigstens die Ahnung einer programmatischen Kontur haben; er muss sich um die zerfallene sozialdemokratische Organisation kümmern; er muss – wie der gerade erfolgreiche Hesse aus dem Unionslager – innerparteiliche Bataillone sammeln, die sich für ihn auch in den harten Zeiten medialen Gunstentzugs schlagen. Er muss der große Integrator sein, aber auch der konzeptionelle Identitätsstifter, der Mittelstürmer, der Scout, das Trüffelschwein für die Themen von morgen.

Man hat allerdings derzeit nicht den Eindruck, dass es diesen Typus in der SPD gibt. Und deshalb sind die Genossinnen und Genossen so mutlos, so verzagt, ja nahezu hoffnungslos. Den Sozialdemokraten fehlt nicht generell der Nachwuchs, wie es oft heißt. Unter den jungen Abgeordneten gibt es zahlreiche durchaus disziplinierte, überaus fleißige, akkurate Fachleute. Als gut vernetzte Gruppe führen sie regelmäßig interne und öffentliche Diskussionen mit Experten aus Politik, Wirtschaft und Kultur. Sie veranstalten Konferenzen, geben die wohl anspruchsvollste parteipolitische Zeitschrift der Republik heraus. Einige von ihnen werden in mittlerer Frist und nach einer gewiss noch schwierigen Durststrecke respektable Ministerpräsidenten oder hoch kompetente Staatssekretäre und Minister – wenn denn in elf oder fünfzehn Jahren auch die kommende CDU-Regierung abgewirtschaftet haben wird.

Zu Beginn ihrer zweiten Amtszeit verfallen Kanzlerparteien in schöner Regelmäßigkeit in Depressionen

Doch der sozialdemokratische Nachwuchs ist nicht wie die Kochs, Wulffs, Müllers von der Gegenseite in elementaren Auseinandersetzungen, scharfen Disputen und misstrauisch geführten Grundsatzdebatten groß geworden. Die jungen Genossen hatten nie viele Rivalen und mussten daher nicht unerbittlich miteinander konkurrieren. Daher fehlen ihnen der Biss und die zündenden Leitideen. Und ihnen fehlt der verwegene Truppenführer, der sie alle mitreißt, entschlossen und kalt die Machtfrage zunächst in der Partei, dann in der Republik stellt. Es fehlt vielleicht ein Mann wie Wouter Bos. Er hat in den Niederlanden nach der schlimmsten Niederlage der sozialdemokratischen PVDA im Frühjahr des letzten Jahres sich gleichsam aus dem Nichts heraus an die Spitze der Partei gedrängt, das alte Establishment unsentimental nach Hause geschickt und damit unlängst einen grandiosen Wahlerfolg gefeiert.

Exakt 140 Jahre gibt es die Sozialdemokratie nun schon in Deutschland. Doch noch nie wirkte die Partei, die wahrlich eine Menge Schläge einzustecken hatte, so führungslos – intellektuell und organisatorisch. Wer immer das Führungsvakuum künftig ausfüllen will, der wird dies nicht nach der Methode Schröder/Lafontaine tun dürfen. Sollte er es aber dennoch so machen, dann allerdings ist die Sozialdemokratie ernsthaft und zum ersten Mal in ihrer Geschichte in der Substanz gefährdet. FRANZ WALTER