Charlotte Schlesinger und Anna-Christina Rhode-Jüchtern

Einmal auf Charlotte Schlesinger, eine Komponistin und Musikpädagogin, gestoßen, versank Anna-Christine Rhode-Jüchtern in jahrelanger detektivischer Kleinarbeit. Dabei war es ursprünglich gar nicht ihr eigenes Begehren, dieser Frau nachzuspüren. Die Kollegiaten des Oberstufenkollegs in Bielefeld wollten von ihr, der Musikdozentin, mehr über Komponistinnen im „Dritten Reich“ wissen. Das war 1994. Die erste Reaktion der Musikpädagogin: „Keine Ahnung!“

Bei der Recherche stieß sie auf Grete von Zieritz, die Grande Dame der Komposition neben Ruth Zechlin. Sie hatte kein Auftrittsverbot unter den Nazis. Zusammen mit den Kollegiaten besuchte Rhode-Jüchtern die damals 96-jährige von Zieritz in Berlin. Beim Durchblättern von deren Rezensionen aus sechzig Jahren Musikschaffen stieß Rhode-Jüchtern auf den Namen Charlotte Schlesinger. Gemeinsam mit von Zieritz hatte sie an der Berliner Hochschule für Musik bei Hans Schreker Komposition studiert. Es waren die beiden einzigen Frauen in seiner Klasse. Der Name Schlesinger setzte sich in Rhode-Jüchtern fest als ein Symbol für verlorene Vergangenheit.

Als Sechzehnjährige kam Schlesinger 1925 an die Musikhochschule. In den ersten Jahren schrieb sie viele Kompositionen, darunter eine eigenwillige, aber noch akademische Doppelfuge für Klavier, die ihr großen Respekt einbrachte. Ab 1927 studierte sie zusätzlich am Seminar für Musikerziehung und wurde nach ihrem Examen zwei Jahre später dort als Lehrerin angestellt.

Schlesinger arbeitete an innovativen Musikerziehungskonzepten entsprechend den Ideen des sozialdemokratischen Reformpolitikers Leo Kestenberg, der selbst Pianist war. Seine Lebensaufgabe sah er in der „Erziehung zur Menschlichkeit mit und durch Musik“. Sofort nach der Machtergreifung der Nazis 1933 wurden sie und die anderen jüdischen Lehrer entlassen.

Für Rhode-Jüchtern wird es von da an schwierig, mehr über Schlesingers Leben zu erfahren. „Ich hatte oft das Gefühl, Schlesinger will gar nicht, dass ich sie finde“, sagt die 58-Jährige. Jahrelang suchte sie vergebens. Erst durch die Kontakte mit der Arbeitsgruppe „Frauen im Exil“ in der Berliner Gesellschaft für Exilforschung bekommt sie den entscheidenden Hinweis: Jemand kennt den Neffen von Charlotte Schlesinger. Er lebt in London und besitzt einen Koffer mit Kompositionen und Briefen seiner Tante.

Das Bild rundet sich ab: Noch 1933 floh Schlesinger über Prag nach Wien, wo sie an einer Montessori-Schule unterrichten konnte. Als sie in die Sowjetunion eingeladen wurde, ging sie nach Kiew. Dort trat sie mit Opernproduktionen auf, die sie mit der Opernklasse des Konservatoriums einstudierte, und hatte eine erfolgreiche eigene Radiosendung.

Die Stadt in der Ukraine war nicht die letzte Station ihres Exils. 1938 entkam sie gerade noch rechtzeitig den stalinistischen Säuberungen und konnte in die USA einreisen, wo sie sich als Musiklehrerin durchschlug. Von 1946 bis 1949 lehrte sie am Black Mountain College – einer Kaderschmiede der Avantgarde. Einer ihrer Kollegen war John Cage. Das College galt als Erbe des Bauhauses. In den Fünfzigerjahren kehrte Schlesinger nach Europa zurück und lebte bis zu ihrem Tod 1976 in London bei ihrem Bruder.

Die Auseinandersetzung mit Schlesinger ist für Rhode-Jüchtern eine späte Genugtuung. Denn 1965/66 hatte die Pastorentochter in Göttingen Musik studiert, und zwar bei Wolfgang Boetticher. Er hatte mitgeholfen, das vom NS-Pressehauptamt herausgegebenen „Lexikon der Juden in der Musik“ zu schreiben. Eine Schmähschrift, die jüdische Musiker und Musikerinnen diffamiert. Rhode-Jüchtern hat davon erst nach ihrem Studium erfahren.

Die Auseinandersetzung mit Schlesinger bringt Rhode-Jüchtern auch mit den pädagogischen Reformansätzen aus der Vorkriegszeit in Verbindung, die sie am Oberstufenkolleg gerne dauerhaft verwirklicht sähe. In der Nazizeit gingen diese experimentellen pädagogischen Ansätze verloren. Leerstellen entstanden, die in Deutschland bis heute nur teilweise wieder gefüllt werden konnten.

Was die Flucht auf der anderen Seite für die Exilsuchenden bedeutete, verstand Rhode-Jüchtern, als sie in London endlich Schlesingers Briefe aus den Dreißigerjahren lesen konnte. „Ich habe mitgekriegt, wie verloren die Leute waren. Immer auf der Suche nach einem Ort, wo sie sich sicher fühlen können. Und doch niemals ankommen.“

WALTRAUD SCHWAB ist Reporterin im Berlinressort der taz