Ein Grabmal linker Ideologien

Rafael Chirbes’ neuer Gegenwartsroman zeigt die Auswirkungen vom Massentourismus auf die Küste: vom Bauunternehmer bis hin zur Baustellennutte. In einer Zeit, in der Spanien von Erinnerungsliteratur überschwemmt wird, legt „Krematorium“ die Innereien einer Generation bloß

„Die Form des Romans ist, wie keine andere, ein Ausdruck der transzendentalen Obdachlosigkeit. Der Roman ist die Epopöe der gottverlassenen Welt.“ Georg Lukács

VON JUDITH LUIG

We read to know we’re not alone.

C. S. Lewis

„Wir lesen, um zu wissen, dass wir nicht alleine sind.“ Das ist tröstlich und zynisch zugleich. Es lässt einen Augenblick glauben, man könnte den Abgrund zwischen Menschenwelten überwinden. Doch dieses merkwürdige Formulierung „wissen“ wirft die Hoffnung zurück ins Spiel. Sie gibt ihm einen unklaren Ausgang. Einsamkeit weiß man nicht: Man fühlt sie nur.

„Jedes Buch macht dich einsamer“, sagt der Schriftsteller Federico am Ende von Rafael Chirbes’ neuem Roman „Krematorium“. „Du schreibst ein Buch, um Nähe herzustellen, damit man dich liebt; sie sollen dich nachts in den Händen halten, wenn der Schlaf sie übermannt. Aber genau das Gegenteil geschieht.“ Vielleicht hat sich deswegen Chirbes ein anderes Programm gesetzt: „Ich wollte, dass es ein Buch wird, das man am liebsten nicht lesen würde, von dem man aber nicht loskommt.“ Das ist ihm gelungen.

Die Isolation der Figuren im neuen Roman des spanischen Erfolgsautors raubt dem Leser jedes Gefühl von Zusammenhalt. Zuletzt meint man fast, dass Matías, der den gesamten Roman über als Leiche im Kühlregal liegt, die einzige Figur ist, die wenigstens gelebt hat. Die restlichen Personen präsentiert der Autor in einer Serie endloser Monologe, aus denen es keinen Ausweg gibt. Nähe wird nur körperlich hergestellt: durch Sex. Doch auch so gelingt kein Verschmelzen. Sex ist hier reinrammen, nageln, aussaugen.

„Krematorium“ ist ein Buch über das Scheitern einer Generation spanischer Intellektueller. Die ungleichen Brüder Ruben und Matías Bartomeu sind als Jugendliche mit einer Menge großer Ideologien ausgestattet worden. Doch verändert haben sie die Welt nur auf überschaubare Weise: Matías, einst ein wilder Linksradikaler, ist Ökobauer geworden; und Ruben, der einst mit großen Visionen startete, ist heute ein korrupter Bauunternehmer, der das Paradies des fiktiven Mittelmeerortes Misente mit Bauklötzen für den Massentourismus zubetoniert. Silvia, Rubens Tochter, eine Restauratorin, rettet sich in Liebhaber und Drogen, um in ihrem falschen Leben bleiben zu können. Es kommt so weit, dass man fast die meisten Sympathien für einen Aufpasser einer Prostituierten empfindet, weil der noch als Einziger so etwas wie das Prinzip Hoffnung verkörpert.

„Krematorium“ ist ein Grabmal linker Ideologien. Chirbes hat es mit einem Zettelkasten aus Notizen und Zeitungsausschnitten geschrieben. Doch die Sätze und Gedanken, die der Autor von Enzensberger, Pasolini, Quevedo oder Seneca geliehen hat, sind nur noch ein kulturelles Koordinatensystem ohne Kurve. So stehen sie verloren in dem Gedankengefängnis, in das Chirbes sie gesperrt hat. Der prominenteste ist das Motto zu Anfang. Ein Bibelzitat: „Denn unser keiner lebt sich selber, und keiner stirbt sich selber.“

Ein Roman, hat Georg Lukács gesagt, ist „die Epopöe der gottverlassenen Welt “. Doch bei Chirbes gibt es keine Helden, nicht mal Antihelden. Es bleibt auch kein Platz für eine Handlung. Nur Momentaufnahmen des Innenlebens eines ganzen Panoramas von Unbeteiligten, die ihr eigenes Leben als Farce durchspielen. Im Bibelzitat, einem Brief des Apostel Paulus, heißt es weiter: „Leben wir, so leben wir dem Herrn; sterben wir, so sterben wir dem Herrn.“ Doch dieser Gott, dem Tod und Leben unterstellt ist, ist den Figuren von „Krematorium“ abhanden gekommen. Auf diese Weise hat Chirbes einen Antiroman geschaffen. Es wird nicht mehr erzählt, es gibt keine Entwicklung, nur noch das seltsame erdrückende Gefühl von Stillstand.

„Krematorium“ ist brillant konzipiert. Wie in seinen vorangegangen Romanen zeigt sich Chirbes als Meister der inneren Rede. Graduell steigt man die Stufen des zeitgenössischen Spaniens herab. „Gedichte haben in der Literatur die gleiche Wirkung wie Modelle in der Architektur: Du siehst das ganze Gebäude von der Luft aus, die ganze Landschaft auf einen Blick“, erklärt Juan, Silvias Mann, einmal. „Krematorium“ ist ebenso ein Modell der Gesellschaft, das man durch die Romanform betrachten kann. Doch seine Struktur bleibt schwer zu durchschauen und gibt Rätsel für den Leser auf.

An Ende von „Krematorium“ steht die endgültige Zerstörung der Familie. Über sie triumphiert Monica, eine durch plastische Chirurgie aufpolierte Trophäe, die sich Ruben gekauft und geheiratet hat. Sie ist das Gegenprogramm zu seiner ersten Frau, einer intelligente Schönheit, unter deren Liebe Ruben litt, da er zu ihr nicht einfach sagen konnte: Komm, lass uns ficken. Monica befriedigt dieses und andere Bedürfnisse, und irgendwie scheint der Autor selbst eine gewisse zynische Genugtuung darin zu empfinden, dass sie schließlich der Familie den Stammhalter geben wird. Einen Sohn, der nur allzu offensichtlich, ähnlich wie der jüngste Spross der Buddenbrocks, die Geschichte dieser Familie, und damit das Kapitel der spanischen Geschichte, zu dem sie gehört, beenden wird. Zurück bleibt die Einsamkeit.

Rafael Chirbes: „Krematorium“. Aus dem Spanischen von Dagmar Ploetz. Kunstmann Verlag, München 2008, 432 Seiten, 22 €