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Archiv-Artikel

Im Panoramaformat

Eiskristalle und Kunstsprachen, Bienenschwärme und Wüstensand: Zeichnen nach Tönen und Klängen mit „Sigur Rós“, der düster-schön-märchenkitschigen Gesamtkunstwerksensation aus Island

von MARC PESCHKE

Sigur Rós sind in der Stadt – da hilft nur ein Isländisch-Kurs. Wird so etwas in der Hamburger Volkshochschule eigentlich angeboten? Denn wir wollen endlich mal dahinterkommen, was Sigur Rós-Sänger Jón Thór Birgisson da eigentlich erzählt. Manche behaupten, es wäre eine Phantasie-Sprache mit dem Namen Hopelandish – ganz neue, lautmalerische Oralpoesie. Aber uns kann man ja viel erzählen. Es wurden zwischen Geysiren, heißen Quellen und Vulkanen nämlich bereits Menschen entdeckt, die ganz anderer Meinung sind: „Das ist stinknormales Isländisch“, sagt ein Herr aus Y, den wir X nennen – denn vor dem Sprachkurs können wir für nichts garantieren.

Mit dem neuen Album ( ) (eine Klammer, in der schlicht nichts steht) kommen die vier Musiker jetzt nach Hamburg. Im Beiheft zu ( ) steht ebenfalls nichts – und der Hörer wird gebeten, etwas in dieses Nichts auf Pergamentpapier hineinzuschreiben oder zu zeichnen. Wer das noch nicht getan hat, kann es vielleicht jetzt beim Konzert nachholen. Wie auch immer, hier ein schonungsloser Selbstversuch:

Versuchen wir‘s mal mit dem ersten Stück von ( ): Das beginnt getragen mit einzelnen Klaviertönen. Aus der Ferne, gleichsam irgendwo aus der arktisch-alpinen Gebirgstundra hört man jetzt ein Heulen, eine Stimme, irgendwo zwischen Mensch und Tier. Dann setzen Streicher ein, nehmen die Melodie auf, das Heulen verstummt und wird Gesang. Sonderbar hoch klingt Birgisson jetzt, ein trauriges Stück Musik, aber mit einem Funken Hoffnung, eben nur fußbreit im Dispo. Wir zeichnen einen Herbstbaum in unser Albumbeiheft – und wissen, dass der Frühling kommen wird.

Das zweite Lied (oder vielleicht auch wieder eher ein Stück?) beginnt wieder mit diesem Obertonheulen, dann klingt es wie ein Bienenschwarm, nun zählt das Schlagzeug ein, die Drumsticks schlagen Holz auf Holz, eine Slidegitarre imitiert den Ruf eines einsamen Koyoten. Wer Calexico mag, die Friends Of Dean Martinez oder Giant Sand, der ist hier richtig. Jetzt riecht das isländische Moos auf einmal wie mexikanischer Wüstensand. Ich zeichne einen Skorpion ins Heft, der bei Sonnenuntergang über eine Veranda krabbelt.

Das dritte Stück beginnt wieder mit einem Piano, jetzt aber deutlich schneller, beinahe romantisch beschwingt. Nach einer Minute schwillt das Ganze an, Gitarren kommen ins Spiel, doch wer jetzt „Pink Floyd!“ ruft, ist auf der falschen Fährte. Richtiger sind da vielleicht eher: Cocteau Twins, Mogwai, Godspeed You Black Emperor! oder sogar Procul Harum: schneidend schöne Instrumentalmusik, die sich wie ein Korkenzieher in den Kopf schraubt. Ich spitze den Bleistift, zeichne mit schnellen Strichen einige Eisberge aufs Papier, lege den Stift beiseite und betrachte das selbstverschönerte CD-Beiheft.

Also: Kaufen Sie vorher die CD, nehmen Sie ihr Beiheft mit zum Konzert und malen Sie etwas hinein, wenn die Musiker ihr düsteres, schönes Spiel beginnen. Finden Sie die Musik von Sigur Rós schmalzig oder vielleicht sogar langweilig? Die Gitarren zu bombastisch oder die Pianophrasen zu kammermusikalisch? Finden Sie die Musik schlicht zu langsam oder stehen Sie einfach nicht auf das pathetische Panoramaformat? Dann schreiben Sie genau das in ihr Beiheft oder zeichnen Sie etwas: Finden Sie eine freie, künstlerische Ausdrucksform für ihre negativen Gefühle, etwa im Stil des Abstrakten Expressionismus. Und vergessen Sie bloß nicht, ihr Booklet nach dem Konzert auf die Bühne zu werfen.

Wenn Sie aber von Sigur Rós begeistert sind, dann zeichnen Sie einfach einige Eiskristalle in ihr CD-Heft, melden sich beim Isländisch-Kurs an oder fliegen gleich am nächsten Wochenende für einige Tage nach Reykjavik.

Sonnabend, 20 Uhr Kampnagel (k6). Achtung: Bei Redaktionsschluss war das Konzert so gut wie ausverkauft. Wer also keine Gelegenheit bekommt, Zeichnungen/Booklets auf die Kampnagelbühne zu werfen: Das Internet hält mehrere offizielle Seiten zur Band bereit, viele mit Gästebuchfunktion ...