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Archiv-Artikel

Lieder vom besseren Leben

Wenn heute in Berlin die Schallplattenpreise der deutschen Phono-Akademie verliehen werden, die Echos, will RTL die Volksmusikanten nicht dabei haben. Aber warum eigentlich?

von JAN FEDDERSEN

Die Schmuddelkinder müssen draußen bleiben. Voriges Jahr schon durften sie nicht dabei sein, denn das wäre – der übertragende Sender hatte da seine Erfahrungen – quotenabträglich gewesen. RTL wollte auf gar keinen Fall die Verleihung des Echo übertragen, wenn auch Acts und Musiker gewürdigt werden, die in jenem Marktsegment ihr Geld verdienen, das landläufig als Volksmusik bekannt und berüchtigt ist. Also Männer und Frauen und Bands wie Stefan Mross und Stefanie Hertel, die Paldauer oder die Kastelruther Spatzen.

Der Echo, das muss vielleicht erwähnt werden, ist der deutschen Musikindustrie jene Auszeichnung, die dem amerikanischen Grammy gleichkommen soll. Gepriesen werden mit dieser Trophäe die erfolgreichsten Acts des Jahres – in den USA in momentan etwa vier Dutzend Sparten, vom besten Countrynewcomer über den Rockstar und die Folkband des Jahres bis zum Grammy für ein Lebenswerk. Ausschlaggebend sind nicht allein die Verkaufsziffern von Alben, hinzu kommt eine Bewertung dessen, welches Potenzial ein Act in Zukunft zu realisieren verspricht. Eine für die Musikindustrie nicht nur der USA typische Mischung aus kühler Ökonomie und ästhetischer Lagebeurteilung. Einig ist man sich in den Grammy-Gremien lediglich darin, alle Sparten ins All American Music Boat zu holen, nichts auszugrenzen, keine Musik als Bäh zu nehmen: Man weiß ja nie, welche Geschäfte man mit dem Geschmack anderer Leute noch machen kann.

Nicht so in Deutschland: RTL glaubt, und die heutige Echo-Zeremonie in Berlin wird dies belegen, nur mit jenen Stilen Quote machen zu können, die irgendwie hip sind. Also modisch. Angesagt. Unpeinlich. Bands und Interpreten, die in Bravo ihr Forum finden, sind sehr okay, solche, die auch vom Stern oder vom Spiegel wahrgenommen werden, auch in Ordnung, aber schon Medien wie Frau im Spiegel oder die Freizeit Revue, ebenfalls Foren von marktmächtigen Musikern, gelten als nicht preiswürdig.

Hans R. Beierlein, vor 35 Jahren Entdecker der Qualitäten Udo Jürgens’, Medienmanager in München, war empört. Der Mann, der eine ausgesprochen feine Nase als Trendscout bewies, als er Mitte der Achtzigerjahre die medialen Qualitäten der Volksmusik entdeckte und sie mit Hilfe der (damals noch so gut wie alles ausstrahlenden) privaten TV-Stationen popularisierte und glänzend dabei verdiente, kommentierte fassungslos: „Der Echo hat sich damit selbst diskreditiert. Was gedacht war als telegene Plattform für alle möglichen Spielarten von Popmusik, ist jetzt wieder nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was in Deutschland geschmacklich populär ist – bei Jugendlichen.“

Beierlein hat Recht, selbst wenn man – als durchschnittlicheR LeserIn einer Tageszeitung wie der taz beispielsweise – Volksmusik ästhetisch als Zumutung und Stefanie Hertel als reaktionäre Antwort auf Madonna empfindet: Deutschland scheint nicht gut darin, den Geschmack von Leuten auszuhalten, die nicht im gleichen weltanschaulichen Kosmos flottieren oder von denen es annimmt, dass es gleich Welten sind, die einen trennen, wenn der geschmackliche Nenner nicht stimmt.

Eine extra langweilende Rolle nehmen hierbei jene akademisch inspirierten Bemühungen ein, die als Poptheorie bekannt wurden. Diese wurde selbstverständlich nicht in Blättern wie der Bild-Zeitung verhandelt, sondern in jenen Medien, in deren Feuilletons zunächst den klassischen Kulturdisziplinen Platz eingeräumt worden war.

In puncto Musik war das alles, was die Klassik umfasst. Autoren wie Manfred Sack (in der Zeit) oder Karl-Heinz Bohrer (als Londonkorrespondent für die Frankfurter Allgemeine Zeitung) brachten in den Siebzigerjahren ihrem auf Bildung abonnierten Publikum das nahe, was nach der Klassik musikästhetisch passierte – also fast alles, was auf dem Tonträgermarkt heutzutage ökonomisch dominiert. Achtundsechzigern war derlei Kennerschaft gleichgültig. In jenen Szenen galt jede Musik als okay, die wie sie auf Rebellion und Kritik des schlechten Lebens setzten. Elvis und die Stones waren satisfaktionsfähig, die allermeisten anderen, die auch nur in die Nähe einer Hitparadennotierung kamen, nicht. Abgelehnt wurde durch die Bank alles, was kommerziell schien – das war anstößig an sich. Natürlich galt Elvis als unter aller Würde, als er sozusagen immer amerikanischer wurde. Als er statt Babyspeck (wie in besten Tagen) einen wampigen Körper zeigte, triefende Burger aß und sich um fettarme Kost einen Dreck scherte, weil sie ihm keine Lust bereitete.

Anfang der Achtzigerjahre aber begann zu wachsen, was inzwischen ein Poptheoriegebäude geworden ist, Zeitschriften wie die Spex (und ihr wichtigster Autor Diedrich Diederichsen) waren daran beteiligt. Ohne hier jede theoretische Erörterung und ihre Neujustierung nachzuzeichnen, bleibt, alles in allem, dies zu sagen: Der Begriff Pop sei Chiffre für eine Musik, die Kritik an den bestehenden Verhältnissen übe; die subversiv wirke, insofern sie eben dies häufig bestreitet; Pop sei, insgesamt, die Stilart der Dissidenz.

Bleibt jedoch die Frage, zu was und zu wem. Zu den Eltern? Den Lehrern? Zum Sozialismus? Zu den RivalInnen im Geschlechterkampf? Zum Kapitalismus womöglich? Schaut man sich allerdings die Titel an, die in den vergangenen fünfzig Jahren populär wurden, bei Erwachsenen wie bei Jugendlichen, findet sich kaum ein Beleg für den dringenden Wunsch nach grundstürzender Veränderung der Verhältnisse – für revolutionäre Ansprüche marxistischer Art gab es da nie etwas zu holen.

Tatsächlich bezeugen alle, ausnahmslos sämtliche Songs, ob man sie stilistisch eher dem Rock, dem Soul, dem Schlager oder der so genannten Weltmusik zuordnet, Fantasien von einem besseren Leben – innerlich und äußerlich. Einerseits Lieder, die vom Liebeskummer („Lonely“ von Police oder „Suspicious Mind“ von Elvis) berichten, von der Verführung durch eine ältere Frau („Und es war Sommer“ von Peter Maffay) oder einen jungen Mann (Dalidas „Er war gerade 18 Jahr’“), vom Wunsch nach Liebe überhaupt („Love Is A Stranger“ von den Eurythmics), von Einsamkeit („Frozen“) oder Melancholie („Angie“ von den Stones).

Andererseits, je nach Zeitgeist, Lieder, die Pop, populär wurden, weil in ihnen allgemeine Proteste zum Ausdruck kamen: Joan Baez’ Ode auf die hingerichteten italoamerikanischen Anarchisten Saccho und Vanzetti, die Hymne der Stones auf die Spießer dieser Welt, „I Can’t Get No Satisfaction“, Pink Floyds operettenartige Unterstützung frustrierter Schüler („Another Brick In The Wall“), Geier Sturzflugs Kritik an der Malochermentalität der Deutschen („Bruttosozialprodukt“) oder die feministische Abrechnung von Annie Lennox und Aretha Franklin mit männlichem Gönnergehabe („Sisters Are Doin’ It For Themselves“).

Natürlich kann bestritten werden, dass die klampfende Bürgerrechtlerin Joan Baez Anfang der Siebzigerjahre, als sie auf dem Höhepunkt ihrer Popularität nicht nur in den USA war, ebenfalls Pop war: Denn das darf nicht sein, schließlich war sie ja gesellschaftsrelevant. In Wirklichkeit war die Bardin genauso Teil des Musikbusiness wie zur gleichen Zeit Diana Ross oder Janis Joplin. Letztere aber, so merkte einmal die britische Musikkritikerin Charlotte Greig böse an, sei nicht wirklich wichtig gewesen, was nicht an ihren schlechten Manieren gelegen habe, sondern am Umstand, dass ihr keine Nummer eins gelang.

Eine ungerechte Kritik, denn längst gehören Joplin und ihre Songs ja zum Kanon jener Lieder, die stets dann auf CD-Compilations gepackt werden, wenn eine neuerliche Nostalgie um die Hippieära (deren Protagonisten und Mitläufer ja inzwischen im „Das war ihr Leben“-Alter angekommen sind) Verwertungschancen verspricht: nachts auf TV-Dauerwerbekanälen gut zu verfolgen.

Ein besseres, ein wahreres Leben: Das ist der Nenner aller populären Musik, aller Popmusik. Die Rede ist, typisch westlich, selten vom ganz und gar Anderen, sondern Naheliegenden: Urlaub, Disco, Sex. Vom Ausstieg auf Zeit. In jedem „Sunshine Reggae“, um einen 1982 populären Sommerhit zu nennen, wird nichts als die Lust auf lässige Ferien gefeiert. Die Verheißung des Neuen, das Versprechen anderer Möglichkeit – jede populäre Nummer erzählt davon, egal, welcher ästhetischen Mittel sie sich bedient. Volksmusik, jene Sorte Popmusik, die beim Echo-Abend draußen bleiben muss, knüpft selbstverständlich ebenfalls an die Fantasien von einem besseren Leben an.

Dass sie die heile Welt der geraniensatten Provinz beschwört, dass sie auf Herzilein Schmerzilein reimt, spielt in dieser Hinsicht keine Rolle. Sie bedient andere Fantasien von Sicherheit und erstrebenswertem Glück, auch andere Identitätshoffnungen – und damit andere Geschmäcker. Das, was poptheoretisch diskutiert wird, mag spannend sein – hat jedoch weder Einfluss auf die Debatten in der Musikindustrie noch auf die Diskurse in den politischen Bewegungen, in den Gewerkschaften beispielsweise, in der Friedensbewegung oder der Antiglobalisierungsbewegung.

Was dort als angesagt gilt, kann schon bald in der nächsten Hitparade auftauchen: Die Industrie ist wenig zimperlich. Anregungen nimmt sie gerne auf – man weiß ja nie, was Kasse zu machen verspricht. Cesaria Evora von den Kapverdischen Inseln? Youssou N’Dour aus dem Senegal? Wenn sie ästhetische Kompromisse eingehen, also ihre Stile auf europäische und nordamerikanische Ohren einstellen, seien sie willkommen, herzlich willkommen sogar – sonst macht es ökonomisch keinen Sinn. Das ist die Logik des Pop: Es muss sich nur verkaufen. Mit welchen Mitteln, ist gleich: Der Konsument ist wenig berechenbar.

Wer hätte gedacht, dass sich mit Songs von Sam Cooke („Wonderful World“) oder Aretha Franklin („Think“) Werbeclips verzuckern lassen würden? Wo doch nicht einmal die Achtundsechzigerbewegung sich einst für die Musik und die Heroen der schwarzen Bürgerrechtsbewegung interessierte? Möglich, dass die Hymnen der Antiglobalisierungsbewegung in zwanzig Jahren ebenso auf CDs kompiliert werden wie die der Woodstockära – wahrscheinlich aber nur, wenn die Bewegung ebenso kräftig und ästhetisch durchsetzungsfähig wird. Ein extremes Maß an Glaubwürdigkeit, gepaart mit Glamour, wäre gewiss nicht von Nachteil.

Die Volksmusikanten können es vermutlich verschmerzen, in Berlin beim Echo fehlen zu müssen. Wie unterscheiden sich nun aber Schlager und Heavy Metal, Soul und Rock, Weltmusik und Wave? Von technischen Unterschieden (Textilien, Instrumente, Lautstärke) abgesehen, vor allem im Habitus, in der Signalwirkung nach außen und innen. Die einen stehen für die Verlierer, die anderen für das Rebellische, das Global-Anspruchsvolle, das Elegante, das Muntere. Zeige mir, welche Musik du hörst und ich sage dir, ob ich deine Gefühle teile! Ach was: deine Welt teilen möchte.

JAN FEDDERSEN, 45, ist taz.mag-Redakteur