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Archiv-Artikel

1.000 kleine Henningleins

SPD-Landesparteitag in Vegesack: Im Bürgerschaftswahlkampf setzen die Genossen ganz auf den Bürgermeister: Der predigt den „kiss“-Faktor und fordert alle auf, möglichst viele Bürger zu umarmen

„Ganz langsam, bitteschön, wir haben die Mehrheit noch nicht sicher“

taz ■ Henning Scherf war richtig sauer: „Wer hat veranlasst, dass dieser Schrott hier verteilt wird, Detlev?“, blaffte der Bürgermeister in seiner Rede vor dem SPD-Landesparteitag am Samstag den Landesvorsitzenden Albers an. „Das ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was wir im Wahlkampf wollen – wir wollen die Leute nicht für blöd verkaufen.“ Ursache für den Scherfschen Rüffel waren die massenhaft im Saal ausliegenden roten Katalögchen aus der SPD-Parteizentrale, die „die besten Werbemittel für starke Kampagnen“ anpriesen.

Im Vegesacker Bürgerhaus, wo die SPD zur Verabschiedung von Kandidatenliste und Wahlprogramm tagte, hatten die Werbefritzen von der „Ident Marketing Gesellschaft“ (IMAGE) einen Stand aufgebaut mit wundersamem Sozen-Nippes: Seidenkrawatten mit politisch-korrekter Aufschrift („Gerechtigkeit, Freiheit, Solidarität“), Kugelschreiber, T-Shirts, eine CD mit den Reden Helmut Schmidts – und kleine SPD-Flugzeuge „aus EVA-Schaum, zum Selberbauen“.

Was Scherf jedoch den verblichenen Kampa-Devotionalien entgegenzusetzen hatte, war so weit davon entfernt auch nicht. „Ganz spontan“, nämlich erst am Vortag, auf dem Weg zum Schaffermahl, habe er sich dazu entschieden, dem Parteitag genau die hippen „Charts“ der eigenen Werbeagentur zu zeigen, die sonst nur die engere Wahlkampfleitung zu Gesicht bekommt.

Also zauberte ein Beamer die Tipps und Tricks der Wahlkampfberater auf eine Dialeinwand. „Das mit dem ‚kiss‘ ist wichtig“, predigte Politprofi Scherf seinen irritiert blinzelnden Genossen. „kiss“ bedeute „keep it seriously simple“, und das wiederum heiße: „Sag es reell und einfach“. Die Werte, die die SPD den Bremer Bürgern vermitteln müsse, seien „Nähe, Wärme und Fakten“, las Scherf weiter vor. „Nähe meint jetzt nicht so ’ne Schmusekiste“, versuchte er zwar zurückzurudern, doch dann brach es doch aus ihm heraus: „Man sagt mir ja nach, dass ich gerne umarme – es wäre gut, wenn ihr da alle mitmachen würdet.“ Tausend Veranstaltungen müsse die SPD machen, so Scherf, hingehen zu den Leuten, in die Kleingartenvereine und Kirchengemeinden. Man wolle einen „Wahlkampf der Gespräche“ führen – umarmen eben, Herzlichkeit ausstrahlen – und an „kiss“ denken.

Wie recht Henning Scherf übrigens mit seinen Bemühungen hat, den Bremer Wahlkampf ohne viel bundespolitische Prominenz zu bestreiten, machte der Auftritt von Olaf Scholz in Vegesack deutlich: Stundenlang saß der SPD-Generalsekretär wie versteinert in der ersten Reihe und lauschte der Bremischen Programmdebatte oder den Einflüsterungen seines mit wichtigem Gesicht herbeistürzenden Gehilfen – das Gespräch mit dem gemeinen Delegierten suchte er nicht. In seinem Grußwort – „kiss“-Faktor: sehr niedrig – pappte Scholz die üblichen Satzbausteine zum Irak-Krieg und zum innenpolitischen Reformbedarf aneinander und ging nur kurz auf Bremen ein. Er habe „etwas sehr Eigenwilliges festgestellt“, so Scholz: „Ihr habt ein Wahlkampfkonzept entwickelt, das heißt, ihr wollt alle so sein wie Henning Scherf – dann kann ja nichts mehr schief gehen.“

„Nähe, Wärme und Fakten“ sollen die Werte der SPD im Wahlkampf sein

SPD-Landeschef Detlev Albers mahnte seine Genossen „in diesem schwierigen, vertrackten Frühjahr 2003“ zur Vorsicht: „Ganz langsam bitteschön, wir haben die Mehrheit noch nicht sicher.“ Nur wenn die SPD „die Zeichen der Zeit“ erkenne und sich heftigst im Wahlkampf engagiere, könne das Ziel von „40 plus x“ erreicht werden.

Albers zeigte programmatische Unterschiede zur CDU und zu den Grünen auf: Zu dem „verwegenen“ Wunsch der CDU, den Technologiepark ins Hollerland zu erweitern, werde die SPD nie die Hand reichen. Andererseits bedauere er es „außerordentlich“, dass die Grünen den Bau des Tiefwasserhafens in Wilhelmshaven ablehnten: „Wir werden dieses Vorhaben nicht zur Debatte stellen.“ Markus Jox