Tage in Weiß, Tuch-Körper in Blau

Doppelausstellung in der Städtischen Galerie im Buntentor: Renate Kornacker zeigt ,,Das Tuch“, eine Retrospektive ihrer Malerei, und Helga Schröder präsentiert Papier-Installationen, -Bilder, -Objekte und -Bücher zum Thema ,,Ferne und Nähe“

Das hatte die Malerin nicht bedacht. Leben wir doch in einer visuellen Kultur, die sich bei der Aneignung von Realität mit Vorliebe auf die Abstraktion sprachlicher Zeichen kapriziert. Das bedeutet: Bevor ein Kunstbetrachter sich einem nicht gegenständlichen Bild aussetzt, versucht er es lieber über Bildtitel und Katalogtext zu verstehen.

Daher drückten die Betrachter ihre Nasen an Helga Schröders frühe Werke, die sich mit Christa Wolfs ,,Kassandra“ auseinandersetzen, um die abgemalten Worte zu entziffern. Anstatt zu goutieren, wie die Worte ins Malerische aufgesprengt werden, um den Sinngehalt in Form und Farbe nachzuempfinden.

Als Zitate-Malerin, so wollte die in Bremen lebende und arbeitende Künstlerin nicht gehandelt werden. Sie erarbeitete sich fortan als Werkstoff selbst geschöpftes Papier, Papyrus und Pergament. Die Aufmerksamkeit wird nun schon mal von den Zeichen zur groben Materialität und transparenten Wirkung des Bildgrunds verlagert. Eine aus Gräsern handgeschöpfte, sehr edel wirkende Papier-Rolle wird von Schröder mit dem „Labyrinth der Einsamkeit“ von Octavio Paz so beschrieben, dass die Buchstaben verlaufen, verschmieren, nur noch schemenhaft schimmern – wie Hieroglyphen einer untergegangenen Kultur.

„Ferne und Nähe“ heißt die verspätete Jubiläumsausstellung in der Städtischen Galerie Buntentor zu Schröders 70. Geburtstag. Nachvollzogen wird die Entwicklung von der skripturalen zur skulpturalen Kunst. Etwa bei der „Ankunft am 21. August“. Da entwinden sich arabische und griechische Buchstaben in frei werdender Motorik des Schreibens aus farbig nervösen Knebel-Lineaturen, entfleuchen auf der Galerie-Wand gen Himmel – oder von dort in das pulsierende Texturen-Chaos hinein. Je nach Perspektive. Nur ein verkrüppeltes „y“ hängt einsam über demFußboden.

Bei diesen Werken drückt kein Betrachter mehr mit seiner Nase pointilistische Fettfleckenmuster auf die Kunst. Man kann nichts mehr lesen, konkret erkennen. Es ist auch rational nicht mehr nachzuvollziehen, was das Bild mit dem Formenvokabular der Schriftkunst zu tun, welche Visionen, Assoziationen die Künstlerin zwischen Wort und Sinn geschoben hat.

So erfreut sich der Betrachter an Schröders fragilen Installationen. Etwa die luftig bewegten Bahnen labyrinthisch aufgehängten Japan-Papiers. Schröder abstrahiert darauf Ingeborg Bachmanns Gedicht „Tage in Weiß“ auf eingenähte Seidenfäden, Krakel und Kritzel, so dass die inhaltsfreie, gewichtslos schwebende Fröhlichkeit des Fahnen-Ensembles im Gegenlicht mit seiner Schönheit prunken kann. Ohne zu vermitteln, dass „,Weiß“ in Bachmanns Poem „Eis“, „Weißglut“, „Totenhemd“ und „Schwanengesang“ bedeutet.

Eine ähnlich deutliche Entwicklung markiert Renate Kornacker in ihrer Parallelausstellung „Das Tuch“. Einst fotografierte die in Höperhöfen bei Rotenburg/Wümme lebende Künstlerin männliche Akte in erbaulichen Außenansichten. Später suchte sie das Wesen des Menschen (Mannes?) in der gotischen Vorstellung vom Gewand, in dem der gesamte Charakter abgelesen werden soll. Kornacker knitterte und faltete und wrang ihre Leinwände gewandig apart zurecht, auf dass sie auf irgendwas in irgendwem verweisen.

Jetzt wird mit Röntgenaugen mitten ins Herz geblickt. Statt roter Gewand- entstehen blaue Tuch-Körper. Gigantisch schlaffe Baumwolltücher hängen über der Leinwand und werden mit Rippenstrukturen bemalt. Tag für Tag, Schicht auf Schicht. Pastell auf Acryl auf Öl. – bis eine feiste Krustenfläche ums Interesse des Betrachters buhlt. Die seriell entstehenden Arbeiten bleichen in ihrer Monochromie zusehends aus. Bis nichts mehr herauszulesen, nur noch hineinzuinterpretieren ist. Das hat die Malerin sich so gedacht.

Jens Fischer

Eröffnung morgen, 10. Januar, 18.30 Uhr, Städtischen Galerie im Buntentor, bis 1. Februar