bücher für randgruppen
: Heime der Heimlosen

Unter einem Pfeiler der U-Bahn-Station Kottbusser Tor im Berliner Stadtteil Kreuzberg stand viele Jahre lang im Freien allseits sichtbar ein Bett. Nachts lag dort unter einer Decke ein schlafender bärtiger Mann mit roten Haaren. Irgendwann tauchte er im tiefsten Winter im Fernsehen auf – er wurde von einem Lokalsender zu seinem Schlafplatz interviewt und verneinte – in seinem Bett liegend –, dass er friere.

Behausungen aus Pappe, Wellblech und Behelfsmaterialien existieren nicht nur in Slums, sondern wohl überall in den Städten der Welt, in den großen genauso wie in den kleinen. Auch in Japan, wo jeder urbane Platz total durchorganisiert zu sein scheint, wo alles gut geplant und bis ins Detail durchstrukturiert ist. Die selbst konstruierten Unterkünfte liegen dort allerdings nicht dicht an dicht oder sind voll familiären Lebens wie die Favelas, sondern finden sich verstreut und vereinzelt im ganzen Stadtgebiet. Der japanische Architekt Akira Koyama hat in seinem jüngst gegründeten Verlag ein sehr ansehenswertes Buch dieser selbst gestalteten Konstruktionen veröffentlicht. Seit nun über zwei Jahrzehnten dokumentiert der Fotograf Ryuji Miyamoto die Cardboard-Häuser Tokios. Er nennt sie die Heime der so genannten Heimlosen, die Obdächer der Obdachlosen. Entstanden seien sie erst in den frühen Achtzigerjahren, als alte Kinos, Gebäude ohne Funktion, im Stadtgebiet abgerissen wurden, um Platz für zahlreiche gläserne Hochhäuser zu schaffen.

Cardboards sind stille Unterkünfte für Singles, abgelegene Rückzugsgebiete, die sich unauffällig an Brückenpfeiler drängen, unter Autobrücken verstecken oder – geradezu idyllisch – zwischen zwei Bäume schmiegen. Für Ryuji Miyamoto geben sie ungeachtet ihrer Fragilität, ihrer armseligen Materialen, ein Zeugnis von der Gestaltung des ungenutzten urbanen Raumes, von der Kreativität und Persönlichkeit ihrer Erbauer. Und diese verkörpern für ihn offensichtlich etwas Urtümliches, er sieht sie als die Jäger und Sammler der modernen Metropolen. Miyamotos Fotografien strahlen dabei nichts Voyeuristisches aus, auch nichts Moralisierendes oder Idealisierendes, sie zeugen von Respekt und Achtung vor ihren Bewohnern, die ausnahmslos unsichtbar bleiben.

Manche Gebilde, mal mit Lattenrosten abgestützt, gelegentlich verpackt wie ein Objekt von Christo, wirken samt der Accessoires in ihrer Komposition eigenartig „japanisch“. Sie fügen sich harmonisch, fast unauffällig in die Umgebung ein oder setzen interessante Kontrapunkte, wie die aus mehreren geöffneten und zusammengefalteten Regenschirmen bestehende Wohnstätte unter Bäumen in einem städtischen Park.

Als ideal-komplementäre Ergänzung zu diesem Thema könnte man das Buch „Haus Meldemannstraße“ empfehlen, ein Foto- und Textbuch, welches die Geschichte des 1905 errichteten und im Herbst 2003 geschlossenen Männerheims in Wien mitsamt seiner letzten Bewohner porträtiert. Hier versammelte sich der gesamte Kosmos der fast zu Obdachlosen gewordenen Menschen unter einem gemeinsamen Dach.

Hertha Hurnaus Farbfotografien der Bewohner, der Drei-Quadratmeter-Kabinen und der Ersatzkühlschränke – bestehend aus Bierdosen und Fantaflaschen unter laufenden Wasserhähnen und Ähnlichem – besitzen dabei eine gänzlich unromantische Qualität. Selbst Bewohner Wilhelm Z. mit seiner Fantasieuniform macht irgendwie frösteln – und das wohl nicht nur, weil er vermutlich in dem Zimmer lebt, in dem der im Nachhinein wohl prominenteste Gast des Männerheims einst über volle drei Jahre, von 1910 bis 1913, hauste: Adolf Hitler.

WOLFGANG MÜLLER

Ryuji Miyamoto: „Cardboard Houses“, 144 Seiten, mit 72 schwarz-weiß Fotografien, Bearlin Verlag 2003; per Mail ordern über bearlin@soleil.ocn.ne.jp, ungefähr 50 EuroHertha Hurnaus, Bernhard Kerbl, Wolfgang Paterno, Peter Pantucek: „Haus Meldemannstraße“, mit einem Vorwort von Brigitte Hamann, 156 Seiten mit zahlreichen Farbfotos, Czernin Verlag, Wien 2003, 19 Euro