: „Es hatte keinen Zweck, hier zu leben“
Vor genau 60 Jahren wurden in Berlin die letzten Juden der Hauptstadt deportiert. Nach der „Fabrikaktion“ entging dem Tod nur noch, wer sich versteckte. Einige überlebten so – mit der Hilfe von wenigen Mutigen
von PHILIPP GESSLER
Rolf Joseph greift zu seinem zerfledderten Adressbüchlein, tippt mit seiner starken Tischlerrechten ins Telefon eine Nummer ein, Auguste Meder meldet sich. Gusti, wie er sie ruppig-zärtlich nennt, wohnt gleich um die Ecke. Der 82-Jährige hat ein Treffen arrangiert, um über die Zeit damals zu sprechen, als sie beide in Berlin versteckt waren vor den Nazis, die sie ermorden wollten. Vergeblich. Er überlebte sie alle. „Von mir denken alle, ich bin schon tot“, sagt Joseph, der Überlebende.
Es gibt sie noch, die Letzten der nach neuesten Schätzungen rund 10.000 bis 15.000 Juden, die zwischen 1941 und dem Kriegsende in Deutschland untertauchten, um dem sicheren Tod in Auschwitz oder anderen KZ zu entgehen. Mehr als 5.000 von ihnen versteckten sich in Berlin, wo vor Beginn der Naziherrschaft etwa 160.000 Juden, ein Drittel der deutschen Juden, lebten. Mehr als 56.000 Männer, Frauen und Kinder wurden aus Berlin deportiert – die letzten, über 7.000, bei der „Fabrikaktion“ heute vor 60 Jahren.
Bei dieser Großrazzia verhafteten Gestapo und SS alle Juden, die noch als Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter in Rüstungsbetrieben der Hauptstadt schuften musste. Nach der „Fabrikaktion“ mussten sie sich verstecken, wen Polizei oder Gestapo erwischten, wurde deportiert. Nur etwa einem Drittel derjenigen, die zeitweise illegal lebten, 3.000 bis 5.000 Menschen, gelang es, so zu überleben.
Wie Gusti Meder. Sie hatte sich mit ihrem Mann auf den Tag vorbereitet, da auch sie abgeholt werden würden. „Wir wollen uns nicht abschlachten lassen“, schworen sie sich. Ein Koffer war sicherheitshalber schon vorher bei einer Freundin verstaut, zu Hause waren die Rucksäcke fertig gepackt. Von der „Fabrikaktion“ bekamen sie schon vorher Wind – in allerletzter Minute, am 27. Februar 1943, tauchten sie unter.
Joseph hatte schon vorher mit seinem Bruder Alfred Zuflucht in der Illegalität gesucht. Es war der Endpunkt einer langen Leidensgeschichte: In der Schule war Joseph jeden Tag von einem Nazi-Lehrer mit dem Rohrstock verdroschen worden. Einfach weil er Jude war. Er schwänzte ständig, ging frühzeitig von der Schule ab. Immerhin gelang es ihm noch, weil der Meister beide Augen zudrückte, eine Tischlerlehre abzuschließen. Nur die theoretische Prüfung durfte er nicht mehr machen, da er dabei angeben musste, nicht „arisch“ zu sein. Der Tischlermeister, ein „anständiger Kerl“, wurde gemaßregelt – nur weil sein Sohn den Betrieb übernahm und in die SA eintrat, blieb der Familie der Betrieb erhalten. Joseph aber musste von da an Zwangsarbeit leisten, erst bei IG Farben, später bei einer Tischlerei in Pankow. Nach der Pogromnacht vom 9. November 1938, der so genannten Kristallnacht, radelte er die brennenden Synagogen der Hauptstadt ab, beobachtete, wie SA-Trupps in der Nähe des Alexanderplatzes Schaufenster „jüdischer“ Geschäfte einschlugen. Als er mitbekam, wie sich ordentliche deutsche Volksgenossen über die Preziosen eines Juwelierladens hermachten, hatte er endgültig genug: Mit seinem Bruder flehte er seinen Vater an, zusammen aus Deutschland zu fliehen. „Es hatte keinen Zweck, in Deutschland zu leben“, viele spuckten einen auf der Straße an, erzählt er. Einfach so.
Doch sein Vater, ein Frontsoldat aus dem Ersten Weltkrieg, ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz, glaubte nicht, dass er, ein Deutscher von Kopf bis Fuß, umgebracht werden könnte: „Mit mir wird man das nicht machen.“ An einem Samstag Anfang Juni 1942 sahen Joseph und sein Bruder, wie ihre Eltern in einen Möbelwagen getrieben und abgeholt wurden. Sie kamen zuerst ins KZ Theresienstadt, später nach Auschwitz, wo sie ermordert wurden. Seine Eltern hatten jeweils acht Geschwister. Keiner hat den Holocaust überlebt.
Rolf und sein Bruder Alfred konnten nicht mehr nach Hause, sie tauchten unter, schliefen die ersten Monate auf Friedhöfen, in Wäldern, in Bahnhöfen. Jede Polizeistreife konnte das Todesurteil sein: „Es war eine furchtbare Zeit.“ Kein Geld, keine Unterkunft, keine Lebensmittelkarten. Einmal die Woche, mittwochs um 11 Uhr, traf sich Joseph mit seinem Bruder am Nettelbeckplatz im Wedding. Irgendwann hatten sie Glück: Eine Bekannte der Familie kannte eine Lumpensammlerin, Marie Burde, die sie in ihre Kellerwohnung aufnahm. „Der Mann ist in Not, dem helfe ich, sagte sie“, erinnert sich Joseph. Auch sein Bruder und ein Freund kamen bei ihr unter.
Marie Burde, damals Mitte 40, war eine sonderbare Frau: Sie hauste in einer Kellerwohnung, hatte keine Möbel, sondern lebte auf Zeitungsstapeln. Auf Hygiene achtete sie nicht, voller Flöhe war die Wohnung. Sie war Vegetarierin, was ihr ermöglichte, das Fleisch, das sie für ihre Lebensmittelkarten bekam, ihren versteckten Mitbewohnern zu geben. Sie sprach mehrere Sprachen, war „hochintelligent“ – aber es konnte sein, dass sie zwei linke Schuhe anzog. „Mieze“ nannten sie die drei versteckten Männer zärtlich: „Die wäre für uns gestorben.“
Dann das Unglück: Vor einem Treffen mit seinem Bruder auf dem Nettelbeckplatz geriet Joseph in eine Ausweiskontrolle: Er nannte sich Paul Wagner – doch dummerweise wurde gerade ein Mann dieses Namens gesucht. In einem Keller der Gestapo in der Burgstraße wurde er gefoltert. Er erzählte nicht, wo sein Bruder war. Noch heute hat Joseph epileptische Anfälle von den damaligen Schlägen auf den Kopf.
In einem Viehwaggon wurde er dann mit fünf anderen Gefangenen Richtung Auschwitz gefahren. Eine Zange, die er seltsamerweise im Waggon fand, ermöglichte ihnen die Flucht. Doch schon nach zwei Tagen wurden sie wieder gefangen. Es ging zurück ins Gestapo-Gefängnis, wo er wieder gefoltert wurde. Eines Nachts kratzte sich Joseph selbst die Haut auf: Es sollte wie Scharlach aussehen, wovor die Gestapo-Leute Panik hatten. Ein herbeigerufener Arzt erkannte den Betrug, diagnostizierte aber dennoch Scharlach und wies ihn ins Jüdische Krankenhaus ein.
Als er nach kurzer Zeit dort wieder abgeholt werden sollte, warnte ihn eine Krankenschwester eine halbe Stunde vorher. Mit zwei nassen Handtüchern bog er die Fenstergitter seines Krankenzimmers auseinander, zwängte sich durch („Ich wog nur noch 92 Pfund“) und sprang aus dem zweiten Stock auf die Straße. Er sah noch die SS ins Krankenhaus laufen. Mit gebrochenem Rückgrat schaffte er es zurück in die Kellerwohnung von Marie Burde. „Ein halbes Jahr habe ich vor Schmerzen nur geschrien.“ Bei Marie Burde erlebten Joseph, sein Bruder und ihr gemeinsamer Freund das Kriegsende.
Auch Gusti Meder überlebte. Die meiste Zeit versteckte sie sich in einem Schrebergarten in Friedrichsfelde Ost. Ihr Mann aber wurde entdeckt und nach Theresienstadt deportiert. Er überlebte. Sie hatte für die höchste Not einen geladenen Revolver immer bei sich – benutzt hat sie ihn nie. Ähnlich wie bei Joseph halfen auch ihr fast nur die Außenseiter der Gesellschaft, Prostituierte etwa oder Zuhälter. Marie Burde erhielt hierzulande nach dem Krieg kaum Anerkennung. Nach ihrem Tod Anfang der Fünfzigerjahre wurde sie in der Holocaust-Gedenkstätte Jad Vaschem mit einem Ehrenbaum geehrt. Gusti Meder wanderte nach Australien aus, aber kam später wieder nach Berlin zurück. Joseph blieb hier irgendwie hängen und war bis zu seiner Pensionierung 1981 Betriebsleiter der Deutschen Waggonmaschinenfabrik am Eichborndamm. Die meiste Zeit verbringt er heute damit, Jugendlichen in Schulen von seiner traurigen, abenteuerlichen Geschichte zu erzählen. Für diese ehrenamtliche Arbeit erhielt er vergangenes Jahr das Bundesverdienstkreuz.
Dies Engagement fällt ihm zunehmend schwer, oft hat er schon daran gedacht aufzuhören. Aber neulich war er mal wieder in einer Schule in Marzahn, wo ihm die Schüler, auf einer langen Treppe auf jeder Stufe stehend, jeweils eine Blume geschenkt haben. „Das hat mich so erschüttert“, sagt er, und nur dieses eine Mal zittert seine Stimme, „Da wusste ich: Ich muss weitermachen.“