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Archiv-Artikel

Warten auf die Gerechtigkeit

Viele im Irak fordern den Tod Saddam Husseins und seiner Schergen. Manche üben Selbstjustiz. Andere wollen die neue Zeit nicht mit Rache beginnen

„Solange keine Regierung für Gerechtigkeit sorgt, müssen wir das tun“ „Die Zeit des Tötens ist vorbei. Wir müssen dem Irak neues Leben einhauchen“

AUS MAHAWIL UND SULEIMANIYA INGA ROGG

Es ist der 15. Ramadan 1991, der Ostersonntag im christlichen Kalender. Auf einem Feld bei der irakischen Kleinstadt Mahawil rund 80 Kliometer südlich von Bagdad werden dreißig Männer mit verbundenen Augen und auf den Rücken gefesselten Händen herbeigeführt. Soldaten haben die Umgebung abgeriegelt. Die Männer müssen sich vor einer Grube niederknien, dann werden sie erschossen. Ein Baggerfahrer schiebt die leblosen Körper in die Grube und schüttet sie mit Erde zu. Noch fünfmal wird sich dieser grausame Vorgang an diesem Tag wiederholen.

Beobachtet werden die Erschießungen von einem jungen Mädchen, das sich hinter den Blättern einer Dattelpalme versteckt hat. Takrid Faraj ist zu diesem Zeitpunkt dreizehn Jahre alt. Die Ländereien, auf denen das Feld liegt, hatten bis vor einigen Monaten noch ihrer Familie gehört. Der Chef der Baath-Partei in der nahen Provinzhauptstadt Hilla hatte es konfisziert und später zum Sperrgebiet erklärt. Immer wieder ist Takrid heimlich hierher gekommen, um nach den Feldern der Familie zu sehen. So auch an diesem Morgen Ende März. Sie ist schon bei Anbruch der Dämmerung da. Deshalb sehen sie die Soldaten und Spezialeinheiten auch nicht, als sie in Kleinbussen die Gefangenen ankarren. Takrid flüchtet auf eine der Palmen, wo sie bis zum Einbruch der Dunkelheit verharrt, immer in der Angst doch noch entdeckt zu werden.

Schmal, in armselige dunkle Röcke gehüllt und den Kopf mit einem großen Tuch bedeckt, steht Takrid Faraj mehr als zwölf Jahre später wieder auf dem Feld bei Mahawil. Ihre nackten Füße stecken in einfachen Gummischuhen, an denen schwer die nasse Erde klebt. Ein Tag wie dieser Dezembertag sei es gewesen, sagt sie. Ein trüber Tag, der Himmel von Regenwolken verhangen. Zwanzig Tage habe das Morden angedauert, sagt die heute 25-Jährige. Sie selbst sei danach nicht mehr hergekommen, doch habe man täglich die Transporte durch Mahawil rollen sehen.

Die Opfer sind Schiiten aus der Region, die nach der Niederschlagung der Aufstände im März gefangen genommen wurden. Männer, Frauen und Kinder – wer immer den Häschern des Regimes in die Hände fiel, landete auf dem nahe gelegenen Militärstützpunkt. Dort entschied ein Hinrichtungskomitee, das aus Vertretern der Baath-Partei, Geheimdienstlern und Mitgliedern des örtlichen Stammes der Albu Alwan bestand, über Leben und Tod der Gefangenen.

Wortlos blickt Takrid auf das Gräberfeld, das heute durch Stacheldraht abgegrenzt ist. Auch jetzt, wo Saddam Hussein und die meisten seiner Gefolgsleute in amerikanischer Haft sind, fällt ihr das Sprechen schwer. Lange hatte sie schweigen müssen, weil mögliche Zeugen von den Schergen des Regimes mit dem Tod bedroht wurden.

Auf dem Gräberfeld liegen verstreut Kleidungsstücke und Stofffetzen herum: ein schwarzer Frauenumhang, ein dunkelblaues Kleid, ein violettes Handtuch, Reste von weißen Männerkleidern und einem hellblauen Kinderschlüpfer. Stumme Zeugen eines Massenmords. Als im Mai Angehörige von Vermissten das Grab öffneten, fanden sie hier die Überreste von über 3.000 Toten. Allein in der näheren Umgebung wurden seitdem fünf weitere Gräber gefunden, im ganzen Land werden bis zu 270 Massengräber vermutet. Menschenrechtsorganisationen schätzen die Zahl der Opfer auf 300.000, sie könnte aber auch weit höher liegen.

Auf die Frage, was mit Saddam und seinen Getreuen geschehen soll, wirft Takrid einen Blick zum Himmel. Darüber müssten Gott und die Geistlichen entscheiden, sagt sie schließlich.

In dem Marktflecken Musayib nördlich von Mahawil hat Mohammed Hussein hingegen eine eindeutige Meinung. Saddam und seine Handlanger verdienten die Todesstrafe, sagt er. Der Automechaniker gehört der örtlichen Vereinigung an, die sich um die Dokumentation der Verbrechen des Regimes kümmert. Sechs Massengräber mit mehreren tausend Opfern wurden hier entdeckt. Allein aus der Gegend von Musayib seien 4.000 Menschen verschwunden, sagt der Mechaniker. Auch sie waren Schiiten. Die Vereinigung sucht nach Überlebenden und Angehörigen und will deren Aussagen dem geplanten Sondergericht vorlegen. Das ist mühsame Kleinarbeit, die einigen in Musayib offenbar zu lange dauert. Ein gutes Dutzend hochrangiger Baath-Kader wurde in den letzten Wochen von Unbekannten ermordet. Erst tags zuvor traf es wieder einen. Er soll Mitglied des Hinrichtungskomitees gewesen sein. Wie viele in Musayib hat auch der freundliche Mechaniker mit dem fast weißen Haar Verständnis für die Täter. „Solange es keine Regierung gibt, die für Gerechtigkeit sorgt, müssen wir das selber tun“, sagt er. Jeden, den man erwische, werde dasselbe Schicksal ereilen.

Eine andere Stimmung herrscht im kurdischen Suleimaniya, gut 400 Kilometer nordöstlich von Musayib. Das ehemalige Gefängnis der Staatssicherheit hier gleicht einer Ruine. Es ist mit Einschusslöchern und Granateinschlägen übersät. Spuren des dramatischen Kampfs zwischen Aufständischen und Baathisten, der hier drei Tage lang im März 1991 stattfand. Heute dient das ehemalige Staatsgefängnis als Gedenkstätte. Wie die Schiiten wurden auch die Kurden oft allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit Opfer der Diktatur. Darin erinnert eine Fotoausstellung, die Bilder von Dorfzerstörungen, den Giftgastoten von Halabja und Massengräbern zeigt. Auf einem Foto sind drei Mitarbeiter der Staatssicherheit zu sehen, die einen toten Häftling an den Schultern festhalten. Gerade haben sie ihm den Kopf abgeschlagen. Triumphierend richtet einer das V-Zeichen in die Kamera. „Wenn jemand den Tod verdient, dann diese Männer“, sagt Barzan Hassan Ahmed. Doch der 40-Jährige, der die Gedenkstätte leitet, ist gegen die Todesstrafe. Das gelte auch für Saddam, sagt er. Sechs Jahre hat Barzan Ahmed als Peschmerga gegen die Diktatur gekämpft und dabei nur knapp einen Giftgasangriff überlebt. Sechzig seiner Gefährten fanden bei dem Angriff auf das Guerillalager den Tod. Aber das Töten sei nun endgültig vorbei, sagt der ehemalige Kämpfer, der seine Guerilla-Uniform gegen Anzug und Krawatte ausgetauscht hat.

Geduldig führt er die Besucher durch die Gedenkstätte – in die lichtlosen engen Einzellzellen, hinunter in die Kellerverliese und in die Folterkammern. Bei jedem Atemzug machen seine Lungen ein schnarrendes Geräusch, eine Spätfolge des Giftgases. Am Ende des Gefangenentrakts ist ein langer Saal mit gebrochenen Spiegeln ausgekleidet, von der Decke leuchten zahllose kleine Lämpchen. Das zerstückelte Spiegelbild soll die Betrachter an die zerbrochenen Seelen der Opfer erinnern. Die Lämpchen hingegen symbolisierten das ewige Leben.

Dem Irak neues Leben einzuhauchen, das sei heute die dringlichste Aufgabe. Der Verzicht auf die Todesstrafe für Saddam sei dazu der Anfang. Wie Barzan Ahmed denken viele in Suleimaniya. Die Jahre in relativer Freiheit haben die Kurden gelehrt, dass die eigene Zukunft nicht mehr vom Tod des Tyrannen abhängt. Dem Rest des Landes, insbesondere den Schiiten, fehlt es an dieser Gewissheit noch.