: Sehet, wie das zerbrochene Land zusammengeheftet wurde!
Nicht in der Schule, sondern im Kino lernen sie: 1.000 Berliner Schüler erhielten mit dem „Wunder von Bern“ Nachhilfe in Nachkriegsgeschichte. Manche störten den Unterricht
Der Louis, so sagt jedenfalls sein Vater, der Louis ist ganz neidisch auf die 1.000 Berliner Schüler, die diesen Montagvormittag im Kino verbringen dürfen. Der Louis geht nämlich in Hamburg zur Schule, und dort erreicht ihn die Initiative des Kulturstaatsministeriums nicht, das für den Kinovormittag verantwortlich ist: Der deutsche Film soll hier in Berlin in die Schule gebracht werden, oder besser: die Schule zum deutschen Film; und welcher Film würde sich für dieses Projekt besser eignen als derjenige, in dem der Louis, der mit Nachnamen Klamroth heißt, neben seinem Vater Peter Lohmeyer eine der Hauptrollen spielt?
„‚Das Wunder von Bern‘“, so formuliert es die Kulturstaatsministerin Christina Weiss am Eingang zum Berliner Zoopalast inmitten einer Traube von Presseleuten, „ist ein Film, der nicht nur eine wichtige Episode aus der deutschen Geschichte darstellt, sondern der dies auf eine besonders spannende und anrührende Art und Weise tut, die ihn vor anderen Filmen auszeichnet.“ Die wundersame Geschichte vom unverhofften Sieg der Deutschen bei der Fußballweltmeisterschaft 1954 hat im vergangenen Herbst die Kinosäle gefüllt; auch der Kanzler, so vermeldeten es die Medien, habe den Film nicht nur begeistert gesehen, sondern dabei sogar zweimal geweint. Vor Rührung.
Regisseur Sönke Wortmann setzt in seinem Film den Fußballsieg mit der allmählichen Normalisierung des Alltags in Deutschland nach dem Krieg in Verbindung, und für die Kulturstaatsministerin hat er dabei den richtigen Ton getroffen: Aus der Perspektive des kleinen Matthias, der von Louis Klamroth gespielt wird, erzählt „Das Wunder von Bern“ eben nicht nur die Geschichte des Sieges in Bern, sondern vor allem diejenige eines „zerbrochenen Landes, das durch diesen Sieg wieder zusammengeheftet wurde“, erklärt die Staatsministerin nach der Vorführung des Films den Schülerinnen und Schülern. Ohne auf dieses Geschichtsbild groß einzugehen, wollen diese nach der Vorführung lieber Auskünfte über die Fußballerfahrung von Sascha Göpel, der im Film den Torschützen Helmut Rahn gibt. Die Jugendlichen ziehen offensichtlich eine identifikatorische Lesart allen anderen Interpretationen vor und gehen bevorzugt dem Wahrheitsgehalt dessen auf die Spur, was ihnen da präsentiert worden ist: Ist die Rahmenhandlung um den kleinen Matthias und seine Familie auch wahr? (Nein.) Hat es die Spieler der Nationalelf wirklich alle gegeben? (Ja.) Wurden Matthias’ Kaninchen wirklich wie im Film geschlachtet und aufgegessen? (Nein.) Ist Peter Lohmeyer im Leben ein ebenso strenger Vater wie der, den er im Film spielt?
Nun ja. Lohmeyer selbst meint dies zwar nicht, aber in dem Chaos aus bauchnabelgepiercten Autogrammjägerinnen, enthusiastischen C-Jugend-Bolzern und desinteressierten Butterbrotauswicklern versucht er immerhin als Einziger unter den anwesenden Erwachsenen, die Jugendlichen auf ihre Plätze zu verweisen und zur Ruhe zu bringen.
Als sich kleine Schülergruppen schon durch die hinteren Türen des Kinosaals davonzustehlen beginnen, fragt dann doch noch einer, ob denn bei der ganzen Geschichte nun die Auswirkungen des Krieges auf Deutschland oder bloß der Sport im Vordergrund stehen sollten. Nur das Heldenepos von 1954 zu erzählen wäre langweilig gewesen, antwortet Produzent Tom Spieß; deshalb habe man das Heldenepos eben in eine Rahmenhandlung mit ganz normalen Menschen gekleidet.
Diese Art von Austausch mag gemeint gewesen sein, als das Kulturstaatsministerium zum „Unterricht ins Kino“ einlud. Die Schüler aber hatten, so sagen jedenfalls viele von ihnen, gar keine Zeit, sich auf diese Art von Geschichtsunterricht vorzubereiten: Viele erfuhren erst zwei Tage vorher von der Veranstaltung. Was genau das Ziel der Übung gewesen ist, blieb auch beim Schlusswort von Frau Weiss im Unklaren – für sie selbst jedenfalls sei der Vormittag bereichernd gewesen, weil sie dieselben Fragen gehabt habe wie die Schüler, sagte sie.
Und während man sich noch die Kulturstaatsministerin vorstellt, wie sie über das Schicksal der Filmkaninchen nachsinnt, lobt der 14-jährige Realschüler Oguz Özcan, der für den bei Schulveranstaltungen immerhin wahrscheinlichen Fall der Langeweile noch ein Asterix-Heft dabei hatte, die ganze Veranstaltung in den höchsten Tönen: „Einen Film mit so tollen Special Effects und Sounds, den muss man sich eigentlich mindestens zweimal ansehen!“ Zunächst muss Oguz aber noch einen Aufsatz über sein erstes Mal schreiben. Nicht nur davon ist Louis in Hamburg verschont geblieben.
ANNE KRAUME