: Ungemütliche Bücher
Zum Frühjahrsauftakt wurden im LCB Autorinnen vorgestellt, die nicht mehr ins Fräuleinwunderschema passen
Als Moderatoren des traditionellen literarischen Saisonauftaktes im LCB verstehen die beiden hauptberuflichen Übersetzer Hinrich Schmidt-Henkel und Frank Heibert ihr Geschäft aufs Beste. Sie haben an diesem Donnerstagabend großen Spaß daran, bei ihrer Einleitung zu erzählen, dass sie mal wieder überhaupt keine Gemeinsamkeiten der von ihnen vorgestellten Bücher und Autorinnen gefunden haben. Ein Witzchen hier: „Ich stelle die Autorinnen vor, deren Namen mit ‚el‘ enden“, einer dort: „Und ich die mit den schwarzen Haaren“, und schon ist alles einfach mit dem Frühjahrsprogramm – sechs neue Bücher von sechs Berliner Autorinnen, von Christina Griebel, Tanja Dückers, Susanne Riedel, Judith Kuckart, Kerstin Hensel und Emine Sevgi Özdamar. Brandneue Bücher, wie Schmidt-Henkel weiß, deren Rezensionssperrfrist gerade erst abgelaufen sei und die „in diesem Moment“ frisch aus der Druckerei kämen und ausgeliefert würden.
Ja, so bekommt man als Leser und LCB-Besucher das Gefühl, ganz vorn dabei zu sein, ein Trendsetter geradezu. Nun ist es aber leider nicht so, dass die Welt jenseits des Literaturbetriebes gespanntest auf ein neues Buch von Kerstin Hensel oder Judith Kuckart warten würde. Das Fräuleinwunder ist schon länger keines mehr und hat auch nicht gerade geholfen. Tanja Dückers zum Beispiel hat trotz höchster medialer Präsenz vergleichsweise wenig Bücher verkauft, und Judith Kuckarts Verlag verweist in seinem aktuellen Frühjahrskatalog beleidigt darauf, dass Kuckarts von FAZ bis Brigitte gut besprochener Roman „Lenas Liebe“ „von der Presse gefeiert – vom Buchhandel ignoriert“ worden sei. Trotzdem ist es natürlich schön, mit was für einer Selbstverständlichkeit das LCB sechs Autorinnen only und ihre Bücher vorstellt. Autorinnen wiederum, die froh sind, dass das Fräuleinwunder vorbei ist; und die kein Lesefutter für Allegra-Leserinnen produzieren wollen, etwa „Dreißig Kilo in drei Tagen“ oder „Happy oder End“, sondern Bücher, die eine längere Halbwertszeit haben und nachhallen, sprachlich, stilistisch, inhaltlich.
So geht die Heldin in dem neuen, „Himmelskörper“ betitelten Roman der gern als Szeneautorin missverstandenen Tanja Dückers ihrer Familiengeschichte auf den Grund. Sie recherchiert in Polen, erfährt von Flüchtlingsdramen, die sich 1945 an der Ostsee abgespielt haben und macht dabei Erfahrungen, für die Marcel Proust einst die Blaupause lieferte. In Dückers’ Buch spielt auch der Untergang der „Wilhelm Gustloff“ eine Rolle, was natürlich Fragen aufwirft. Ein kleiner Schock sei es für sie gewesen, als Günter Grass’ „Krebsgang“ letztes Jahr erschien, gibt Dückers zu, um dann aber, professionell wie sie ist, zu konstatieren, wie gut es sei, dass sich auch andere, jüngere Generationen mit Ereignissen wie dem Untergang der „Gustloff“ beschäftigen würden. Womit sie durchaus eine Gemeinsamkeit mit ihren Kolleginnen hat: Es sind nicht wenige Bücher über das Erinnern und Vergessen, die an diesem Abend vorgestellt werden. Susanne Riedel, die wegen eines Trauerfalls in der Familie nicht kommen konnte, erzählt in ihrem Roman „Eine Frau aus Amerika“, die Geschichte eines älteren deutsch-amerikanischen Ehepaars, dessen Beziehung durch die dunkle deutsche Geschichte harten Belastungsproben ausgesetzt ist. Kerstin Hensel spannt in ihren 33 Lebensausschnittsgeschichten „Im Spinnhaus“ den Bogen von der Kaiserzeit bis zu Nachwendezeiten, und auch Emile Sevgi Özdamar ist mit ihrem Roman „Seltsame Sterne starren zur Erde“ in der Vergangenheit gelandet: Sie erzählt die Geschichte einer jungen türkischen Schauspielerin im Ost- und Westberlin der Siebzigerjahre.
Mehr als Anregungen können natürlich alle Autorinnen bei einer Veranstaltung wie dieser nicht geben, und oft sind es auch ein bisschen viel der guten Worte, die im Lesesaal die Runde machen: „Ungemütliches Buch“, „Hymne an die Erzgebirgler“, „Schreiben ist ein wunderbares Unglück“, „Jedes Klischee lässt sich literarisch fruchtbar machen“. Verstärken sie doch den Verdacht, dass man an diesem Abend trotz zweier Ingeborg-Bachmann-Preis-Trägerinnen keine neue Ingeborg Bachmann gesehen hat. Trotzdem braucht man die Bücher der sechs Autorinnen umso dringender. Denn wann hat man zum letzten Mal ein Buch von Ingeborg Bachmann gelesen? GERRIT BARTELS