Klima außer Form

Wendehälse und Identitätszapper: Hans Joachim Schädlich liefert mit „Anders“ neue Variationen seines alten Themas

von SEBASTIAN DOMSCH

Zuerst sind alle gleich, und danach sind alle anders. Oder wollen zumindest anders sein. Oder wollen schon immer anders gewesen sein. In der deutschen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts gab es mehr als eine Gelegenheit, um von heute auf morgen lieber nicht mehr der sein zu wollen, der man bisher war, etwa der 8. Mai 1945 oder der 9. November 1989.

Bereits 1986 hat Hans Joachim Schädlich in seinem Roman „Tallhover“ eindrucksvoll demonstriert, mit welch erstaunlicher Kontinuität der gemeine Mitläufer jede Phase des politischen oder historischen Umbruchs übersteht. Damals war es eine einzelne fiktive Figur, die in ihrem über hundertjährigen Leben für wechselnde Obrigkeiten den loyalen Spitzel gab. In seinem neuesten Werk, „Anders“, präsentiert er ein ganzes Kabinett von historischen Wendehälsen und anderen in ihrer Identität unsicheren Personen und kommt doch nicht an die Überzeugungskraft des früheren Romans heran.

Anders“ besteht zum größten Teil aus den Gesprächen des namenlosen Icherzählers und seines Freunds Awa, beide pensionierte Meteorologen, die sich gegenseitig „Fälle“ referieren, Lebensgeschichten von Menschen, die sich anders darstellen, als sie sind, sich eine neue Identität erschaffen. Merkwürdigerweise passt gerade die zuerst vorgetragene Geschichte um den Gelehrten Konstantin von Tischendorf nicht so ganz in das vorgegebene Schema. Auch der zweite „Fall“, Stefan Jerzy Zweig, ist nicht durch eigenen Entschluss ein anderer geworden, vielmehr wurde ihm ein Teil seiner eigenen Geschichte und damit seiner Identität geraubt. Nachdem der Erzähler die wahre Geschichte Zweigs wiedergegeben hat, der als dreijähriges Kind mehrere Monate im KZ Buchenwald überlebte, beschreibt er, wie der Schriftsteller Bruno Apitz diese Geschichte in seinem Welterfolg „Nackt unter Wölfen“ zum Zweck der kommunistischen Legendenbildung verbog. Unter anderem verschwieg Apitz, dass statt des kleinen Jungen ein Zigeuner nach Auschwitz geschickt wurde.

Dem eigentlichen Unterfangen des Erzählers und seines Freundes entspricht dann erst der Fall des Germanisten Hans Ernst Schneider, der es nach einer erfolgreichen SS-Karriere als Hauptsturmführer und Funktionär der NS-Wissenschaftsorganisation „Ahnenerbe“ unter neuem Namen in der Bundesrepublik bis zum Universitätsrektor brachte. Die Wiedergabe dieses Falls nimmt im Roman den breitesten Raum ein. Was Schädlich dem Leser hier allerdings als erschütternde Entdeckungen präsentiert, ist zwar erschütternd, kaum aber eine Entdeckung. Nicht erst seit dem viel diskutierten Erscheinen des „Internationalen Germanistenlexikons“ im vergangenen Jahr ist der Fall Schwerte/Schneider ausführlich beschrieben worden, bereits 1998 erschienen dazu eigene Bücher von Claus Leggewie und Ludwig Jäger.

Je mehr solche Fälle, darunter auch die leicht entschlüsselbare Biografie Gregor Gysis, vor dem Leser ausgebreitet werden, umso dringlicher stellt sich die Frage nach ihrer Relevanz in einem wie auch immer geschlossenen Projekt. Das Buch selbst scheint diese Frage negativ zu beantworten, denn nicht umsonst lässt Schädlich Meteorologen erzählen und forschen. Als Wetter- und Klimaforscher gehören sie kraft ihres Fachs zu den eifrigsten und umfassendsten Datensammlern überhaupt. Die Menge an Informationen, die zur Berechnung des Wetters oder gar des Klimas nötig sind, überfordern noch immer die schnellsten Computer, und jede Voraussage bleibt Glückssache. Den Wandel des Klimas mit seinen katastrophalen Folgen für das 21. Jahrhundert können sie zwar erwarten, aber weder erklären noch verhindern. Das Datensammeln bleibt letztendlich nutzlos, diese Erkenntnis zieht der Erzähler aus einer internationalen Klimakonferenz in Australien am Ende des Buchs. Es ist unwahrscheinlich, dass er nach Deutschland, in die Dreiecksbeziehung und zu den „Fällen“ zurückkehren wird. Er wird ein anderer werden.

Vielleicht hätte auch der Roman ursprünglich anders werden sollen, gar kein Roman, vielmehr eine Essaysammlung oder etwas ganz anderes. Der dünne Romanrahmen mit den belehrenden Gesprächen der beiden Pensionäre zumindest wirkt wie nachträglich übergezogen und ächzt an manchen Stellen unter der Last dessen, was er zusammenhalten muss. Wirkliche Dialoge finden eigentlich nie statt, es gibt stets nur, in wechselnder Besetzung, Vortragenden und Stichwortgeber, und die Übergänge zwischen den Fällen scheinen eher willkürlich. Schädlichs Hobby-Historiker verzichten auf jede Deutung des von ihnen zusammengetragenen Materials, sie dokumentieren lediglich das reibungslose Funktionieren des Wechsels. Das mag für pensionierte Naturwissenschaftler in Ordnung sein, für einen Romancier ist es zu wenig.

Hans Joachim Schädlich: „Anders.“ Rowohlt Verlag, Reinbek 2003, 119 Seiten, 19,90 Euro