„Da sind schon viele durchgedreht“

Die Zahl der Zwangsräumungen steigt in Köln seit zwei Jahren an. Immer häufiger kommen die Menschen aus wirtschaftlich scheinbar stabilen Verhältnissen. Im schlimmsten Fall droht das Obdachlosenheim. Städtische Stellen helfen, das zu vermeiden

VON CLAUDIA LEHNEN

Von einem Tag auf den anderen schien sich im Hause Mahlmann das Unglück eingenistet zu haben. Es gab keine Vorwarnungen, niemand hatte damit gerechnet. Jochen Mahlmann arbeitete seit zwei Jahren als Werbegrafiker. Seine Frau hatte seit der Geburt der kleinen Tochter ihre Festanstellung aufgegeben, verdiente gelegentlich als Bürohilfe ein paar Euro hinzu. Alles lief gut, sie hatten eine günstige Dreizimmerwohnung, ein Auto, einmal im Jahr fuhr man nach Spanien in eine Ferienwohnung. Vielleicht könnte man sich ja irgendwann einmal eine Eigentumswohnung kaufen.

Über solche Träume spricht heute bei Mahlmanns niemand mehr. Sie sind froh, die Miete für die Dreizimmerwohnung wieder bezahlen zu können. Denn fast hätten sie alles verloren. Als die monatlichen Gehaltszahlungen plötzlich ausblieben, drohte ihr ganzes Leben einzustürzen. Wegen schlechter Auftragslage zahlte der Arbeitgeber keine Gehälter mehr aus. Da das Konto ohnehin immer überzogen war, kamen die Existenznöte sofort. Wie sollte man Lebensmittel, Kleidung, Telefon, Strom und Gas bezahlen? Vor allem: Wer würde für die Miete aufkommen?

Die Mahlmanns sind kein Einzelfall. Innerhalb eines Jahres sei die Zahl der Räumungsklagen in Köln um etwa 25 Prozent gestiegen, sagt Roland Beyen, Sachgebietsleiter der Fachstelle Wohnen im Kölner Amt für Soziales und Senioren. Alarmierend sei vor allem, dass nicht nur wirtschaftlich schlecht Gestellte davon betroffen sind, sondern auch „Personenkreise wie wir alle“. Es treffe seit etwa zwei Jahren vermehrt auch diejenigen, „die lange ein gutes Einkommen hatten, die viel Geld als Selbständige verdienten und wegen Kündigung oder schlechter Auftragslage plötzlich nicht mehr in der Lage sind, ihre Miete zu zahlen“, ergänzt Anna Genz, Leiterin des Sozial- und hauswirtschaftlichen Dienstes der Stadt Köln.

Wie schnell ein wirtschaftlich scheinbar gesichertes Leben aus den Fugen geraten kann, verdeutlicht Beyen an folgendem Szenario: „Wer zwei Monate mit seiner Miete im Rückstand ist, kann vom Vermieter eine Räumungsklage bekommen. Zahlt er dann immer noch nicht, kommt es zur Zwangsräumung, im schlimmsten Fall zur Einweisung in ein Obdachlosenheim.“ Bei einer Zwangsräumung tragen die Möbelpacker neben persönlichen Gegenständen häufig die gesamte Zukunft eines Menschen, einer Familie aus dem Haus. „Da sind schon viele durchgedreht“, sagt Anna Genz.

Dafür, dass es meistens erst gar nicht so weit kommt, sorgen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Fachstelle Wohnen und des Sozial- und hauswirtschaftlichen Dienstes. Von 2.600 Mietern, die 2002 eine Räumungsklage erhielten, mussten nur 170 in eine Obdachlosenunterkunft eingewiesen werden. Gut ein Drittel der in eine Notsituation geratenen Menschen konnte durch Beratung und die Mietrückstandsübernahme seitens der Fachstelle Wohnen in ihren alten vier Wänden bleiben. Für fast alle anderen konnten die Mitarbeiter eine günstigere Wohnung finden. „Wir wollen vermeiden, dass jemand aus einer vorübergehenden wirtschaftlichen Notlage heraus sein gesamtes Leben umwerfen muss“, sagt Genz.

Die Mitarbeiter des hauswirtschaftlichen Dienstes klügeln zusammen mit den Mietern Eigenhilfepotenziale aus, analysieren die Einkommensverhältnisse, prüfen Ansprüche auf Sozialhilfe oder Wohngeld und helfen im Notfall auch finanziell aus. All das tun sie nicht nur aus Menschenliebe, sondern weil sich die Stadt dadurch hohe Folgekosten erspart. „Ein Platz im Obdachlosenheim ist durch Bewachung und Betreuungspersonal unverhältnismäßig teurer als eine normale Wohnung“, sagt Beyen. Außerdem drohe Bewohnern einer Obdachlosenunterkunft häufig der absolute soziale Abstieg. „Kinder werden in der Schule ausgegrenzt, Erwachsene bekommen keine Arbeit mehr“, zählt Genz auf.

Die Mahlmanns sind Dank städtischer Hilfe an der Katastrophe vorbeigeschrammt. Die Fachstelle Wohnen übernahm den Mietrückstand, ein Freund half über weitere finanzielle Engpässe hinweg. Wenn alles klappt, kann Jochen Mahlmann bald in einem anderen Büro anfangen. Dann, so hoffen sie, können sie auch die Mietschulden an die Stadt zurückzahlen. Von Spanien redet in diesem Jahr niemand.