: Wunder auf Weckruf
Erich Esch vom Jesus-Center am Schulterblatt kümmert sich unermüdlich im Schanzenviertel um Obdachlose und Drogenabhängige, weil er früher selbst einer von ihnen war. Bis „der Herr“ ihn vor zehn Jahren weckte
von TONIO POSTEL
Erich Esch glaubt an Wunder. Der Streetworker beim Jesus-Center e. V., einer sozialen Einrichtung im Schanzenviertel, hilft all jenen, um die sich sonst niemand mehr kümmert. Mehrmals am Tag macht „Erich“, wie ihn seine Freunde von der Straße nennen, Kontrollgänge durchs Quartier, „um zu sehen, ob meine Jungs noch leben“, wie er sagt. „Manchmal auch nachts um vier oder fünf.“ Falls nötig, päppelt er die Obdachlosen und Drogensüchtigen, wie seine eigenen Kinder, mit Tee und Broten so lange auf, bis sie wieder zu Kräften kommen. Wenn möglich, vermittelt er ihnen zudem Kleidung aus der Kleiderkammer, Therapie- und Schlafplätze und auch Wohnungen.
Eine Iso-Matte und ein Schlafsack von einem „seiner Jungs“, vor einem geschlossenen Geschäft neben der Haspa auf dem Schulterblatt ist momentan verwaist, aber Esch weiß, wer hier schläft: Bert (Name geändert). Ein 23-jähriger Waise, der seit vier Jahren in der Schanze „auf der Platte“ lebt und im ganzen Viertel bekannt ist. Um ihn kümmert sich Esch besonders intensiv, er ist sein Sorgenkind.
Wenn Bert nicht gerade pfeifend durch die Straßen rennt, steht er oft am Ausgang des Bahnhofs Sternschanze und fragt jeden nach seiner Tageskarte oder einer kleinen Spende. Mit seinen nachdrücklichen, fast penetranten Forderungen bekommt er so manchen rum, andere machen deshalb lieber einen großen Bogen um ihn.
„Hier konnte ich vor zwei Jahren im Winter einem jungen Mann mit einer Lungenentzündung das Leben retten“, sagt Esch und zeigt auf ein Stück Wiese im „BaSchu“, der Hinterhof-Verbindung von Bartelsstraße und Schulterblatt. „Und hier schläft meistens auch einer drin“, sagt der Streetworker mit Blick auf eine Backsteinkammer, die als Müllabstellplatz dient. Das Dach bilden einige Holzlatten, die im Ernstfall weder Regen noch Schnee abzuhalten vermögen. „Es ist schon verrückt“, findet Erich Esch, „hier im Viertel halten sich die Ärmsten direkt neben den Reichsten auf“, und deutet auf den roten Backsteinbau des Gewerbehofs, in dem Werbeagenturen und Filmproduktionsfirmen ihren Sitz haben. „Die Notunterkünfte sind voll“, sagt Esch. Momentan gebe es in der Schanze „nur“ fünf Leute, die auf der Straße schliefen. „Von 22 bis 8 Uhr dürfen sie in den Geschäftseingängen liegen“, so Esch. „Aber“, schränkt er ein, „nicht in allen.“
Ob Erich Esch aber wirklich so heißt, wie er heißt, wird er wohl nie erfahren. Er ist ein Findelkind, nur sein Vorname stehe fest. „Die haben da irgendeinen Zettel gefunden“, weiß er. „Zuerst habe ich Erich Heilmann geheißen, dann Erich Esch-Heilmann und heute nur noch Erich Esch“, sagt der besonnene, kräftige Mann mit dem gutmütigen Blick und dem ständigen Lächeln im Gesicht. Auch sein Geburtsdatum ist unsicher: Esch geht davon aus, heute 59 Jahre alt zu sein. „Das Jugendamt in Moers“, sagt er, „hat das damals bestimmt.“
Dabei ist das, was Esch in seinem Leben widerfahren ist, der Stoff, aus dem Albträume sind. Nachdem er „Ende 1944 irgendwo in der DDR“ gefunden und in ein Heim gesteckt worden war, begann er bereits mit neun Jahren, Farbe und Benzin zu schnüffeln. Mit elf wurde er von einem Erzieher vergewaltigt, mit 17 kam er zu einer Pflegefamilie. Doch das Martyrium hielt an.
Nach drei Jahren wollte ihn die Familie nicht mehr – glücklicherweise, denn auch hier wurde er von der Pflegemutter zu sexuellen Handlungen gezwungen. „Erst als Volljähriger fing ich an, mich zu wehren“, erinnert sich Erich Esch. Die Zeit, die dann folgte, beschreibt er heute als „die glücklichste meines Lebens“. Er reiste jahrelang durch Europa, verbrachte die „Flower-Power-Zeit“ in England, Frankreich, Italien und Jugoslawien – nie mit festem Wohnsitz: „Dort lernte ich mich durchzusetzen.“
Dann ging Esch vier Jahre lang zur Heilsarmee, ehe er Anfang der 80er Jahre wegen einer Schlägerei in den Knast wanderte. Sechs Jahre bekam er, weil er seinem Widersacher im Streit den Barhocker über den Kopf zog – schwere Körperverletzung mit Todesfolge lautete das Urteil. Insgesamt verbrachte Esch elf Jahre seines Lebens hinter Gittern.
30 Jahre lang war er selbst drogenabhängig und 15 Jahre auf der Straße. Einen Selbstmordversuch hat er hinter sich, nachdem ihn die Diagnose der Ärzte, Leberzirrhose im Endstadium sowie Magengeschwüre, nicht mehr an einen Sinn im Morgen glauben ließen. „Die gaben mir noch ein bis zwei Monate“, erinnert sich Esch.
Doch dann kam der 16. August 1994. „An diesem Tag erhielt ich einen Weckruf von Gott“, sagt er heute trocken und grinst. Was auch immer passiert war, Esch hatte seine Krankheiten besiegt und plötzlich die Kraft und den Glauben daran gewonnen, für sich den Sinn des Lebens völlig neu zu definieren. „Die Ärzte konnten es nicht fassen“, berichtet er.
Doch genauso klar, wie ihm sein neu gewonnenes Selbstbewusstsein erschien, war ihm seit diesem Tag, dass seine Stärke fortan nicht nur ihm ein Vorteil sein sollte, sondern auch all jenen, die bislang nicht die Kraft hatten, das Elend hinter sich zu lassen. Seit diesem Tag kümmert sich Erich Esch um „seine“ Leute auf den Straßen der Schanze. „Ich liebe sie einfach“, sagt er und fügt an: „Dank meiner Erfahrung bin ich wahrscheinlich besser für den Job geeignet als ein studierter Pädagoge.“
Der Erfolg gibt ihm Recht: In vier Jahren hat Esch drei Therapieerfolge zu verzeichnen und 30 ehemals Suchtkranken eine Wohnung vermittelt, 18 davon dauerhaft. „Die gehen heute einem geregelten Leben nach.“ Doch auch Rückschläge gehören dazu: Zwölf Menschen, die Erich aus dem Viertel kannte, sind heute tot. „Manchmal kriege ich eine Art Eingebung, dass ich jemanden finden muss“, sagt er. Und meistens steht es wirklich nicht gut um denjenigen.
Die Leute, um die sich Esch kümmert, finden: „Er ist so kollegial. Wir verstehen ihn und er versteht uns“, bringt es einer von ihnen auf den Punkt. „Die Jugendlichen“, die in den verschiedenen Einrichtungen des Jesus-Center arbeiten, „sind nur wegen Erich hier“, bekennt ein anderer.
Gegenüber dem Schanzenbahnhof betreibt das Jesus-Center seit Jahren einen kleinen, antialkoholischen Kiosk, den dennoch besonders Alkoholiker aufsuchen, die „sich treffen wollen oder ein offenes Ohr brauchen“, so Esch. „Das ist unverbindlicher im Freien.“ Glaubt Esch. Doch der Andrang ist spürbar weniger geworden, seit die Polizei verstärkt Platzverbote ausspricht, sagen die Gäste.
Manche nennen Esch den „Jesus von St. Pauli“. Wunder geschehen doch.