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Archiv-Artikel

„Unseren tapferen Helden“

Ein Kriegerdenkmal im größer werdenden Schatten der „Hitler-Linde“ in Sachsenhausen erzählt die Geschichte des sogenannten „Feldgrauen“ Otto Karwinkel: Eine Spurensuche

VON ANJA MAIER

Klick. „Guten Tag, hier ist die taz. Sagt Ihnen der Name Otto Karwinkel etwas?“ Die Frau muss kurz nachdenken. „Ja, das war mein Urgroßvater. Aber ich hab jetzt gar keine Zeit“, sagt Antje Karwinkel, „ich geb Ihnen die Nummer von meiner Oma. Fragen Sie die mal. Sie ist die Schwiegertochter von Otto, außerdem hat sie bestimmt mehr Zeit.“

Es ist nicht einfach, dem Leben eines Mannes nachzuspüren, dessen Existenz im Grunde nur auf einem grauen Kriegerdenkmal nachgewiesen ist. „Karwinkel, Otto“, steht auf dem Granitstein vor der Kirche. Karwinkel war einer von siebzehn Sachsenhausenern, die 1915, im zweiten Kriegsjahr, gefallen sind. Einer von neunundfünfzig, die aus dem kleinen märkischen Straßendorf in den Ersten Weltkrieg gezogen sind.

Wer war dieser Mann? Wie hat er gelebt, wie ist er gestorben? Was ist von ihm neunzig Jahre nach Kriegsende geblieben? Welche Spuren hinterlässt jemand, der für das Deutsche Reich in den Ersten Weltkrieg gezogen – und darin umgekommen ist? Der seit dreiundneunzig Jahren tot ist? Erinnert sich noch jemand an ihn?

Günter Buse führt Buch in Sachsenhausen, er ist der Orts-Chronist. Stolz zeigt der Siebzigjährige der Besucherin den dicken Ordner, in dem er seine Schätze abgeheftet hat. Zeitungsartikel, Urkunden, Landkarten. Und Fotos. Man sieht das Feuerwehrhaus, die Havelschleuse, die Kirche, den Schützenverein in Paradeuniform. Es sind die Zehnerjahre des letzten Jahrhunderts, es sind Bilder aus der Zeit, bevor Sachsenhausen bei Oranienburg zum Synonym wurde für das erste Muster-KZ der Nazis, für Vernichtung und Schuld.

Gesichter ziehen vorüber, körnig und blass, der Schützenkönig schaut erschrocken in die Linse, der Erntewagen rattert über den Dorfplatz, Maßkähne schaukeln auf der Havel. Und da ist er: Otto Karwinkel. Sein ovales Gesicht ragt aus dem Uniformkragen, die Augen liegen tief, den Mund hält er geschlossen, ganz still schaut er. „Otto Karwinkel aus Sachsenhausen, gefallen 1915, ein so genannter Feldgrauer“, schrieb Günter Buse unter das Foto. Das Foto rückt er nicht raus. Buse mag es nicht, wenn andere Geld mit seiner Arbeit verdienen. Er bittet um Entschuldigung dafür, bleibt aber hart. Außerdem, sagt er, lebten ja noch heute jede Menge Karwinkels hier in der Gegend, von denen habe sicher auch noch jemand ein Otto-Foto.

Ein Blick ins Telefonbuch zeigt: Tatsächlich, allein in der Kreisstadt Oranienburg wohnen vier Karwinkels. Die erste ist die eilige Antje Karwinkel, die ihre Oma als Gesprächspartnerin empfiehlt. Ihre Großmutter Gisela hat tatsächlich Zeit. „Aber wissen Sie“, sagt die 76-Jährige freundlich, „ich habe alles weggeschmissen. Die jungen Leute interessiert das alles doch nicht mehr.“ Sie erzählt von einem Grab auf dem Sachsenhausener Friedhof. Da liege er zwar nicht, der Otto, keiner wisse, wo er liegt. Aber seine Witwe, die Mathilde, habe sich den Namen ihres Mannes auf den Grabstein gravieren lassen.

Verwunschen liegt der alte Friedhof in der Herbstsonne. Direkt daneben fließt die alte Havel, im Schleusenbecken paddeln zwei Schwäne. Seit Jahrzehnten ist das Gräberfeld aufgegeben, hier wird schon lange niemand mehr bestattet. Nur die Granitfundamente des Friedhofstores sind noch da, an eine gepflegte Böschung sind die verbliebenen Grabsteine gelehnt: drei Dutzend Sachsenhausener, alle tot. Unter den Namen keine Mathilde, kein Otto. Kein Eintrag im Taufbuch der Kirchengemeinde. Ist da womöglich jemand in den Stein gehauen worden, der hier gar nicht gelebt hat?

Doch, Otto Karwinkel hat hier in der Mark Brandenburg gelebt. Über Leben und Sterben wird in Deutschland ordnungsgemäß Buch geführt. Die Oranienburger Standesbeamtin Evelin Schaffran braucht gerade mal eine Minute, um Otto im Sterbebuch zu finden. Geboren am 3. Juli 1874, gefallen 1915. Das Jäger-Ersatz-Bataillon Nr. 3 in Lübben teilt ordnungsgemäß mit, dass Otto Karwinkel, Maurer, 41 Jahre, wohnhaft und geboren in Sachsenhausen, am 3. September 1915 infolge Verwundung im Gefecht bei Lindau verstorben ist.

Als er dort, in jenem brandenburgischen Nest, starb, war er ein gestandener Handwerker. Er hatte im Dorf Häuser gebaut, Stalldächer ausgebessert, Zäune gesetzt. Schießen, Krieg machen? Das konnte er doch gar nicht. Man mag sich vorstellen, wie dieser nicht mehr junge Familienvater seinen Gestellungsbefehl erhielt. Wie der Briefträger damit bei Karwinkels in der Urbanstraße 22 vorbeikam, wie Otto und Mathilde besorgte Blicke tauschten. „Was, wenn du nicht wiederkommst“ – „Ich komme wieder!“ „Was wird aus Hertha und Otto, den Kindern“ – „Ich bin bald wieder zurück“ – „Wovon sollen wir leben“ – „Wir sind doch eine große Familie hier im Dorf“. Das mögen die Eheleute Karwinkel beredet und beraten haben. Otto zog in den Krieg, und er kam nicht wieder. So banal ist deutsche Geschichte.

Für die Kriegerwitwe Mathilde, erzählt ihr Enkel Manfred Bittkau, gab es später nicht mal eine Rente. Bis zu ihrem Tod 1936 lebte sie im Haus ihrer Tochter Hertha; als der kleine Manfred eingeschult wurde, starb sie. Sie hatte Otto um 21 Jahre überlebt.

Ob Mathilde sich gefreut hat, als ihr Otto drei Jahre nach Kriegsende zum Helden erklärt wurde? Am 20. November 1921, dem Totensonntag, weiht die Gemeinde Sachsenhausen vor der Kirche „einen Denkstein“ ein. 2.550,00 Mark haben die 2.100 Bürgerinnen und Bürger dafür gesammelt, vorn stehen die Namen, hinten die Widmung: „Unseren tapferen Helden“.

Dem Text der Stiftungsurkunde, die der heutige Pfarrer Peter Krause im Kirchenarchiv gefunden hat, merkt man an, wie nah das Grauen des Krieges damals noch war. Und wie aufrichtig der Wunsch nach Frieden. „Es war ein Bedürfnis aller“, steht da in wunderschöner Sütterlinschrift, „den lieben Toten und den Hinterbliebenen ihre Dankbarkeit sichtbar zum Ausdruck zu bringen, getragen auch von dem Wunsch, daß der neu entstandenen Republik die Wiederkehr solch leidvoller Jahre erspart bleiben möge“.

Es ist beim Wunsch geblieben. Und dass es 1939 wieder Krieg gab und dass bis 1945 vom idyllischen Berliner Vorort-Bahnhof Sachsenhausen aus zehntausende Häftlinge ins nahe Konzentrationslager getrieben wurden, hat auch etwas mit der Fähigkeit der Menschen zu tun, zu verdrängen und zu vergessen. Und mit Will Decker, einem anderen Sachsenhausener.

Der glühende Nazi, Jahrgang 1899, hatte anders als der Maurer Otto Karwinkel den Ersten Weltkrieg überlebt. Der Historiker und Germanist trat früh in die NSDAP ein und wurde 1930 Mitglied des Reichstags. Ein Jahr darauf ernannte ihn die NSDAP-Spitze zum „Inspekteur für Erziehung und Ausbildung“ in der Reichsleitung. Ab 1934 publizierte er die Zeitschrift Volk an der Arbeit, 1935 wurde er zum Generalarbeitsführer im Reichsarbeitsdienst ernannt. Der Edelnazi Decker wohnte in Sachsenhausen, sein Haus in der Friedrichstraße stand nur hundert Meter vom Denkstein für den „tapferen Helden“ Otto entfernt.

Decker war es, erzählt Orts-Chronist Buse, der das Kriegerdenkmal in der Dorfmitte für seine nationalsozialistische Ideologie instrumentalisierte. Als 1933 Adolf Hitler an die Macht kam, bat der eifrige Sachsenhausener Decker den Führer, Ehrenbürger der Gemeinde zu werden. Hitler nahm die Ehrung an, so wie er sie in mehr als viertausend Städten und Gemeinden annahm. Um das Ereignis angemessen zu würdigen, pflanzten die Dörfler direkt hinter dem Kriegerdenkmal die Hitler-Linde. Fortan wurde Otto Karwinkels Andenken beschattet von dem immer dicker werdenden Baum. Zwölf Jahre später, im April 1945, sollten direkt hier, am Stein vorbei, die KZ-Häftlinge auf ihrem Todesmarsch gen Norden getrieben werden. Mehr als 30.000 ausgemergelte Gestalten, streng bewacht von SS-Leuten. An der Ostsee sollten sie auf Schiffe verladen und dann im Meer versenkt werden. Tod und Elend, alles in Blickweite des Granitdenkmals auf dem Kirchplatz, weil Deutschland wieder einen Krieg angefangen hatte.

Es gibt noch eine andere, eine tröstliche Geschichte aus dieser dunklen Zeit. Diese hätte der gefallene Sachsenhausener Otto Karwinkel vielleicht gemocht. Denn der Pfarrer der Kirche, vor der sein Name in Stein gemeißelt ist, war ein besonderer, ein mutiger Mann. Kurt Scharf hieß er, war hier von 1933 bis 1940 Seelsorger und gehörte der Bekennenden Kirche an, der Oppositionsbewegung evangelischer Christen. Dieser Mann ließ es sich nicht verbieten, allabendlich die Glocken für die Häftlinge im KZ zu läuten. Der Klang trug über den Dorfanger und den Bahnhof hinweg, bis zu ihren Baracken. Sie konnten es hören. Jemand dachte an sie, betete für sie. Jemand in einer kleinen Brandenburger Dorfkirche, vor der ein graues Denkmal aus Granit stand. „Unseren tapferen Helden“, stand darauf. Und in Zeile 21 „Karwinkel, Otto“.

ANJA MAIER, 43, ist taz-Reporterin