: Nach der Moral
Gut und Böse – diese Kategorien helfen beim Aufbau einer friedlichen Weltordnung nicht weiter. Notwendig ist ein Dialog darüber, welche Wahrheiten zu Recht werden können
Wenn von Exponenten der US-Außenpolitik in den Kategorien von Gut und Böse argumentiert wird, herrscht in Europa oft betretenes Schweigen. Es will und kann sich auf diese Ebene nicht einlassen, weil hier die moralische Argumentation in dieser Form gar nicht existiert. Es ist klar, was Moral nicht sein kann. Umgekehrt und positiv ausgerückt: Europa strebt eine Ordnung an, die für alle verbindlich ist und alle schützt. Die Moral kommt zeitlich vor dem Recht, die Moral führt zum Recht und übersetzt sich ins Recht, Verfahrensrecht in der UNO, völkerrechtliche Verträge, Bindung ans Völkerrecht ganz generell.
Anders der moralische Anspruch der USA, der die Guten nicht daran hindern will, das Gute in die Tat umzusetzen. Dazu erscheint der Weg über eine für alle verbindliche Rechtsordnung nicht als unbedingt notwendig. Oder anders gesagt, Moral ist auch das, was sich durchsetzt. Der einzelne Mensch, der gut ist, muss stark sein, damit er das Gute durchsetzen kann. Die einzelne Nation, die gut ist, muss militärisch stark sein, damit sie das Gute durchsetzen kann. Das ist eine moralische und rechtspolitische Konzeption, die sich von der europäischen diametral unterscheidet.
Es braucht also einen rechtspolitischen Dialog mit den Vereinigten Staaten. Wenn Europa rechtspolitisch argumentieren will, muss es auch die europäische verstandene rechtspolitische Moral erläutern. Für Europa ist ein moralisch klingendes Argument nur dann wirklich moralisch, wenn die Moral dem Recht vorausgeht und sich ins Recht übersetzt, welches für alle gleichermaßen gilt. Angeblich moralische Kategorien, die sich unter Umgehung des Rechts direkt in die Tat umsetzen wollen, können im europäischen Verständnis unmoralisch sein. Denn das Entscheidende ist die Pflicht der Staaten, gemeinsam eine völkerrechtliche Ordnung anzustreben. Im Rahmen dieser Ordnung ist Gewaltanwendung dann unter bestimmten Bedingungen erlaubt. Unmoralisch ist hingegen der direkte Schritt von der Moral zur Gewaltanwendung, also zum Beispiel die vermeintliche Befreiung von Völkern, wenn dies um den Preis der Außerkraftsetzung des Völkerrechts geschieht.
Mit andern Worten ist für Europa der so genannte Kampf für das Gute und gegen das Böse – so wie er zurzeit von Exponenten der US-amerikanischen Außenpolitik betrieben wird – vor allem deshalb unmoralisch, weil er gleichbedeutend ist mit der Ablehnung der Einbindung dieses Kampfes ins Völkerrecht. Das US-außenpolitische Freund-Feind-Schema ist die direkte Gegenposition zum Völkerrecht, denn es bezieht nur die befreundeten Staaten in die Aktionspläne ein. Die Einteilung der Welt in Gut und Böse kommt einer fundamentalen, wenn nicht gar fundamentalistischen Absage an das Völkerrecht gleich. Das können die Europäer jenen US-Amerikanern durchaus entgegenhalten, welche immer wieder vom Kampf für das Gute und von der Vernichtung des Bösen reden.
Sie können vor allem auch darauf hinweisen, dass diese Rede durchaus fundamentalistische Wurzeln hat. Wer seine Wahrheit als eine absolute in die Welt setzt und sie damit der universalen Diskussion entzieht, trägt aber dazu bei, dass andere mit ihrer Wahrheit dasselbe versuchen. Fundamentalismus erzeugt Gegen-Fundamentalismus. Zurzeit erleben wir in diesem Bereich eine Eskalation, welche der seinerzeitigen Rüstungsspirale im Kalten Krieg in nichts nachsteht. Die fundamentalistisch motivierten Terroranschläge vom 11. September 2001 haben der Argumentation mit dem Kampf für das Gute und der Vernichtung des Bösen zum Durchbruch verholfen. Das bedeutet: Da diese Argumentation auch fundamentalistische Wurzeln hat, trägt sie jedenfalls in der islamischen Welt zur Vorbereitung des Terrains für das Wachsen von Fundamentalismus bei.
Wo aber fände die universale Diskussion statt, wenn man ihr die eigene Wahrheit nicht entziehen würde? Die einzige Form ist und war schon immer der Dialog über eine allgemein verbindliche Ordnung, der Dialog darüber, welche „Wahrheiten“ zu „Recht“ werden können, weil sie von allen Beteiligten akzeptiert werden können. Dieser Dialog findet überall dort statt, wo Völkerrecht bekräftigt und weiterentwickelt wird. Eine andere wirksame Form dieses Dialogs gibt es nicht. Es ist kein Zufall, dass alle Fundamentalismen das Völkerrecht eher ablehnen.
Ideologien mit fundamentalistischen Elementen verlangen von ihren Anhängern einen vorbehaltlosen Glauben an ihre Wahrheit. Völkerrecht ist demgegenüber keine Frage des Glaubens, es entsteht und festigt sich aufgrund des rationalen Dialoges, auch wenn im Rahmen der universal gültigen Wertordnung historisch bedingte und kulturelle – also auch irrationale – Befindlichkeiten der beteiligten Staaten durchaus mitberücksichtigt werden können. In diesem Spannungsfeld ist die rechtspolitische Tradition Europas von zentraler Bedeutung, gerade weil sie den moralischen Anspruch darauf beschränkt, dass gemeinsam eine für alle gleichermaßen verbindliche völkerrechtliche Ordnung angestrebt wird. Zwar wird diese Tradition sowohl vom islamistischen Fundamentalismus wie auch von den gegenwärtigen Exponenten der US-amerikanischen Außenpolitik ignoriert. Dies hindert nicht, dass die Weiterentwicklung des Völkerrechts immer offen für alle Staaten bleibt, die sich daran beteiligen wollen, und zwar ohne dass diese Staaten „gut“ sein oder sich als zu irgendjemandes Freund deklarieren müssen.
Diese Offenheit der europäischen Tradition kann für manche Staaten außerhalb des so genannten Westens aber nur dann einsichtig werden, wenn Europa gegen die Einteilung der Welt in Gut und Böse öffentlich Widerspruch einlegt, wann immer von US-amerikanischer Seite so argumentiert wird. Gerade in jenen Staaten, die mit fundamentalistischem Islamismus konfrontiert sind, würde dies die antiwestlichen Pauschalurteile etwas bremsen, welche mit fundamentalistischen Glaubensbekenntnissen oft verbunden sind. Denn der Widerspruch gegen die Einteilung der Welt in Gute und Böse setzt genau dort ein, wo sich diese pauschale Ablehnung des „Westens“ entzündet, nämlich auf der Ebene der moralischen Werturteile.
Wenn Europa seine rechtspolitische Tradition in die universale Diskussion einbringt, so stärkt dies in den Vereinigten Staaten jene Kräfte, welche sich den fundamentalistischen Elementen in der gegenwärtigen US-Außenpolitik widersetzen und dieses Land wieder vermehrt ins Völkerrecht eingebunden sehen möchten. Es stärkt aber ebenso in der islamischen Welt die nichtfundamentalistischen Kräfte, also die Befürworter einer Säkularisierung, welche auch in dieser Kultur durchaus Entwicklungschancen hat. Wenn die europäischen Staaten eine Einteilung der Welt in Gut und Böse mit besonnenen Worten zurückweisen, drängt dies die zurzeit absolut gesetzten Wahrheiten in Richtung jenes Raumes, in welchem sie sich wieder öffnen können für die so dringliche universale Diskussion. GRET HALLER