Im Affenjahr ist alles möglich

200 Millionen chinesische Wanderarbeiter reisen dieser Tage in ihr Heimatdorf. Um Neujahr mit der Familie zu feiern, um zu schenken und zu böllern

AUS PEKING GEORG BLUME

Kein Chinese will mehr abergläubisch sein, aber so viel weiß jeder: In Drachenjahren finden große Ereignisse statt (Mao starb 1976), in Ziegenjahre fallen Unglücke (1991 der erste, 2003 der zweite Golfkrieg). Und in Affenjahren ist alles möglich: 1776 die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und 1968 die Studentenrevolte im Westen.

Allerdings sind revolutionäre Prophezeiungen zum neuen Jahr des Mondkalenders in China derzeit weder gefragt noch erlaubt. Weil der Affe als agil, schlau und flexibel gilt, schwärmt man lieber vom „Jahr des Geldes“. Im Allgemeinen freuen sich die Chinesen auf das heute beginnende Jahr des Affen, weil sie dem Jahr der Ziege – bzw. des Schafs – misstrauen. Man bedaurt deshalb die chinesischen Mütter, die gestern noch ihr Kind als Ziege zur Welt bringen mussten, statt es heute als Affe zu gebären.

Tatsächlich ist die Wahrsagerei rund um die zwölf Tierkreiszeichen der chinesischen Astrologie eine der wenigen Traditionen, die den seit fünfzig Jahren anhaltenden Angriff der Kommunisten auf Rituale des wichtigsten chinesischen Festes überlebt haben. Wer weiß heute schon noch, dass man am 23. Dezember des Mondjahres die Hausgeister zum Himmel jagen muss – um ihnen am Neujahrsmorgen wieder Fenster und Tür zur Heimkehr zu öffnen? „Von der alten Tradition des Neujahrsfestes ist nur das Treffen der Familie am Silvesterabend übrig“, trauert der Pekinger Schriftsteller Xu Xing seiner von Geistergeschichten der Großeltern belebten Jugend nach. Dennoch brach Xu am Dienstag eine Lesereise durch Frankreich ab, um pünktlich zum Neujahrsfest bei seinen achtzigjährigen Eltern in Peking zu sein. „Guonian huijia“ – nach Hause gehen – wird das Fest heute auch genannt. Was bleibt, sagt Xu, sei eine Art „Verwandtschaftsgefühl“. Ansonsten ähnele das chinesische Neujahr immer mehr dem westlichen Weihnachten mit Geschenketerror und TV-Langeweile. Zumal auch die traditionelle Böllerei in Großstädten wie Peking seit zwanzig Jahren verboten sei.

Stadt und Land, Reich und Arm fallen so auch am Jahresbeginn auseinander. In Peking und Schanghai herrscht in der Neujahrsnacht christliche Ruhe, draußen auf den Dörfern aber donnert es wie in einem Infanteriekrieg. Ihn zu erleben, zieht es jedes Jahr hunderte von Millionen in die Heimatdörfer zurück. Das ist das Wunder, das China jedes Jahr erlebt: 137 Millionen Zugtickets und 1,717 Milliarden Busfahrkarten sollten in diesen Tagen verkauft werden. So viele Menschen wie nie zuvor in der Weltgeschichte sind in China zu jedem Neujahrsfest unterwegs. Und jedes Jahr wird der Reiserekord aufs neue gebrochen.

Wer es nicht nach Hause schafft, ist betrübt. „Die Firma meines Mannes hat dichtgemacht, ohne die Löhne der letzten sechs Monate auszuzahlen. Jetzt müssen wir in Peking bleiben, um einen Prozess zu führen“, klagt die Putzfrau Xiao Zhou aus der Provinz Anhui am Jangtse. Zu gern wäre Xiao, die das Jahr über zwölf Stunden täglich arbeitet, zu ihren Eltern nach Anhui gefahren. Doch wer aus Peking in die arme Provinz kommt, muss Geldgeschenke für die Familie mitbringen, sonst enttäuscht er alle. Ohne den Lohn des Mannes war die Heimkehr deshalb unmöglich.

Vielen geht es so wie Xiao: Weil sich bis zu 200 Millionen Wanderarbeiter ohne Wohnberechtigung und Arbeitsvertrag in der Großstadt verdingen, passiert es häufig, dass Firmen Löhne einsparen, indem sie kurzfristig den Bankrott erklären, um sich nach dem Neujahrsfest wieder neu zu gründen. Über drei Milliarden Euro ausstehende Löhne von Wanderarbeitern beklagten die Behörden vor einem Monat. Zu Wochenbeginn war es noch eine Milliarde Euro. Zugleich aber ist es ein positiver Schritt, dass in immer mehr Fällen die Löhne eingeklagt werden. Bereits im November schuf ein Pekinger Gericht einen Präzedenzfall, als es eine Baufirma zur Lohnnachzahlung an 500 Wanderarbeiter verurteilte. Sie bekamen ihr Geld noch rechtzeitig zum Neujahrsfest.

Wofür die Arbeiter das Geld brauchen? Ihren Großeltern schenken die Chinesen am liebsten Naturheilmittel wie Ginseng, Verwandten Wein und Früchte, Kindern einen roten Umschlag mit Bargeld. Durchschnittlich 300 Euro kostet eine Stadtfamilie heute das Neujahrsfest – 200 Millionen Bauern müssen in China mit so viel Geld ein ganzes Jahr lang auskommen.