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Archiv-Artikel

Heimliche Herzkammern

Mit Ralph Siegel und Lou gewinnt der klassische Rumtataschlager. Und der NDR hat ein massives Quotenproblem

von JAN FEDDERSEN

„Ich respektiere jeden älteren Menschen, aber wäre es für ihn nicht besser, er würde sich mit einer schönen Frau in einen Whirlpool setzen und das Leben genießen?“ Da konnte Dieter Bohlen noch so sehr sein Gift ausschütten gegen seinen Nachfolger als Begleiter von Naddel: Ralph Siegel hatte es einmal mehr, zum 15. Mal seit 1976, geschafft.

Sein Act hatte den Grand-Prix-Vorentscheid gewonnen. Dieses Jahr für ihn im Rennen: Lou (39), bekannt aus dem Grand-Prix-Vorentscheid 2001 sowie als beliebte Gala-Entertainerin im Süddeutschen. Sie gewann den Event (relativ knapp) vor den schwäbisch-pietistischen Jüngern von Beatbetrieb und dem Kanzlerimitator Elmar Brandt.

Der lag nach dem ersten TED- und SMS-Wahlgang noch vorne, doch wollten ihn die Wähler, womöglich in einem Anflug von Kanzlertreue, doch nicht als Vertreter Deutschlands am 24. Mai in Riga am Mikrofon wissen. Der Mann, der um seine Favoritenposition wusste, zeigte sich ehrlich enttäuscht: „Damit hätte ich nicht gerechnet.“ Dass eben am Ende ein klassischer deutscher Rumtataschlager gewinnt.

Oder medialer formuliert: Dass schließlich der Frohsinn des Freizeit-Revue-Milieus (diese Illustrierte gab den medialen Support für Lou) den Trash der Bild-Zeitung, die multikulturelle Performance der taz-Sängerin Senait und die Liedermacheraura der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung mit ihrem Kandidaten, dem Jungen mit der Gitarre (DJMDG), schlägt, sagt vermutlich mehr über das Land und seine Befindlichkeit aus als jedes Politbarometer: In harten Zeiten sind feinsinnige Töne nicht gefragt – die Ästhetik des Ballermanns scheint zeitgeistiger als alles andere hierzulande.

Mit Lou gewann die einzige Interpretin, die keine grüblerisch-melancholische Pose zur Schau trug und sich obendrein ironiefrei gab: Lass uns fröhlich sein! Tobias Schacht (DJMDG) sagte frustriert: „Es ist nie schön, hinten zu landen. Aber noch blöder ist das, wenn so ein Titel gewinnt.“ Isgaard (31), die ihren „Golden Key“ als Enya-trifft-Kirchenchor vortrug, stimmte in die üble Laune mit ein: „Der Nachwuchs hatte hier keine Chance.“

Senait, Sängerin der taz, der man nicht zutraute, dass eine Schwarze den deutschen Grand Prix gewinnt, landete schließlich auf dem höchst respektablen vierten Platz – nur zwei Prozent TED-SMS-Voten fehlten, und sie wäre statt Beatbetrieb in die Endrunde gekommen. Ihre Performance erhielt in der Ostseehalle den stärksten Beifall – auch aus den Fanblöcken ihrer RivalInnen.

Der NDR hat jetzt freilich ein Problem: Erstens brach die Quote im Verhältnis zum Vorjahr massiv ein; die Zuschauer mochten sich nicht sehr stark für die Show der Newcomer interessieren, zumal außer Lou kein klassischer Schlagerinterpret am Start war. Der Marktanteilsverlust wurde noch krasser deutlich, als die Zahlen für das RTL-Superstar-Finale bekannt wurden: 13 Millionen Deutsche wollten diese Show sehen – zweieinhalbmal so viele wie den Grand-Prix-Vorentscheid am Freitagabend. Ob der Grand Prix Eurovision jetzt stirbt, wird in der heutigen Ausgabe der Bild-Zeitung erörtert – und das ist eben auch die Frage, die der NDR sich stellt: Das Konzept, die größten Musikkonzerne für das Teilnehmerfeld zu rekrutieren, geht nicht mehr auf. Welches Interesse sollte die BMG am NDR-Konzept haben, wenn es doch ein Konkurrent des Superstar-Formats ist? Jürgen Meier-Beer vom NDR: „Wir müssen uns jetzt gründlich Gedanken machen, wie man für die ARD eine im Grunde spannende Show rettet.“ Das Konzept, einem Mainstreampublikum zeitgenössischen Pop anzubieten, wurde glatt zur Seite gewischt: Lou mag eine professionelle Entertainerin sein, die Musik, für die sie steht, ist so kommerziell wie die von Corinna May – gar nicht.

Vielleicht geht das ARD-Brainstorming in eine ähnliche Richtung, wozu ein solches in Spanien vor zwei Jahren geführt hatte: über mehrere Abende (schon vom Frühwinter an) einen Interpreten, eine Interpretin auswählen lassen. Oder wie in Österreich, wo DJ Ötzi, das Popexportprodukt des Landes, in Riga am 24. Mai antreten würde, müsste er keine Vorentscheidung bestreiten.

Ralph Siegel darf sich bestätigt fühlen, er weiß offenbar, wie Deutschland in seinen heimlichem Herzkammern wummert: im anspruchslosen Dancerhythmus, der sich um Subtilitäten nicht schert. Ein ästhetischer Alptraum wird möglich: dass Europas Verehrung für des Kanzlers Nichtkriegspolitik sich in Riga in Punkten niederschlägt.