Die stille Stadt Brilon

In der Heimat von Friedrich Merz wollen alle ihre Ruhe – selbst die SPD

BRILON taz ■ Am Tag, nachdem das Fax gekommen ist, sitzt SPD-Bürgermeister Franz Schrewe im Rathaus und hat Schnupfen. Schrewe ist ein breiter Mann in grauem Anzug, er schnäuzt sich in ein Stofftaschentuch und meint dann: „Ich halte lieber den Ball flach. Die Sprüche von Herrn Merz waren Wahlkampfgetöse. Die hätte er sich wohl besser sparen sollen. Er hat jetzt bei mir angerufen und wollte die Sache geraderücken. Dann kam das Fax. Na ja. Ich bin nicht so der Typ, der draufhaut. Ich will in Frieden hier meine Arbeit erledigen. Mehr sage ich dazu lieber nicht.“ Er packt sein Taschentuch weg.

Das Fax flatterte in die Stille der sauerländischen Kleinstadt Brilon. Das Fax kommt am Mittwochnachmittag. Friedrich Merz, der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU in Berlin, hat es geschrieben und langsam schieben sich die Seiten aus dem Gerät, das im Rathaus der Stadt Brilon steht. Diese Presseerklärung könnte bedeuten, dass es mit der Ruhe in Brilon jetzt ein Ende hat.

Ihren Anfang nahm die Ruhe am 6. Januar, dem Dreikönigstag. An diesem Tag war der Bundestagsabgeordnete Friedrich Merz in einer Halle in seiner Heimatstadt Brilon vor den örtlichen CDU-Mitgliedern gestanden, der Auftritt des CDU-Spitzenpolitikers wurde auf Großleinwand projiziert. In seiner Rede sagte Merz, es gelte „das rote Rathaus in Brilon zu stürmen“. Ihn erfülle es mit „tiefem Grausen“, dass ein „roter Bürgermeister“ in Brilon regiere. Dann führte er seinen Großvater an, der hier von 1917 bis 1937 Bürgermeister war. Am 26. September wird in Brilon ein neuer Bürgermeister gewählt, und Merz wollte dem lokalen CDU-Kandidaten Mut machen. Er sprach dann noch ein wenig über die Abschaffung der Gewerbesteuer und die EU-Osterweiterung.

Seine Worte fielen ins Nichts. Wegen dem Sturm aufs Rathaus und dem Großvater waren einige ältere Männer im Saal etwas blass geworden, betreten guckten sie auf die Schuhe, die Hände im Rücken verschränkt, erzählt ein Teilnehmer hinterher. Aber sie hielten den Mund. Damit begann das Schweigen in Brilon.

Es gab ein paar wenige im Ort, die sich über Merz’ Rede aufregten. Ein Zivildienstleistender schrieb einen Leserbrief an die Lokalzeitung. In dem Brief empörte er sich, dass Merz sich eines Großvaters rühmte, der sich offenkundig von der NSDAP hatte vereinnahmen lassen. Die SPD-Fraktion im Stadtrat beschwerte sich über die Wortwahl des Bundestagsabgeordneten und Fraktionsvize. Aber das Schweigen der CDU war stärker.

Es begann bei Reinhard Mainzer, CDU-Mitglied und stellvertretendem Bürgermeister, der bis heute erklärt: „Ich gebe zu den Äußerungen von Herrn Merz keine Stellungnahme ab.“ Auch die anderen CDU-Mitglieder im Stadtrat hielten es für klüger, nichts zu sagen.

Das Schweigen kam über die Redaktion der Lokalzeitung, die nicht mehr von der Sache berichtete, obwohl bekannt wurde, was Historiker aus dem Ort über den Großvater von Friedrich Merz herausgefunden hatten: dass dieser während der NS-Zeit zumindest ein Mitläufer war. Das Stillhalten erfasste auch die Rentner auf dem Marktplatz, die winkten und riefen: „Das ist alles Blödsinn!“ Sogar Bürgermeister Schrewe wollte sich zu der Rede nicht äußern. Dabei hatte Merz ihn offenbar im Blick gehabt bei seinem Satz vom „roten Rathaus“. Das Schweigen hatte sich eingenistet in Brilon.

Bis das Fax kam. Friedrich Merz hat eine Presseerklärung nach Brilon geschickt. Auf drei getippten Seiten räumt er ein, dass sein Großvater bei der NSDAP war und in die Reserve der SA eingetreten ist. Das ist ein unerwartetes Eingeständnis, nachdem Merz erst am Tag zuvor in einer Zeitung, fern in Berlin, den Großvater eine „beeindruckende Persönlichkeit“ und einen „erfolgreichen Bürgermeister“ genannt hatte. Doch die Akten über seinen Großvater sind eindeutig, das zuständige Archiv in Düsseldorf hat sie am Morgen herausgegeben.

Die Neuigkeit könnte sich in Brilon verbreiten. Die Menschen könnten darüber reden.

Brilon im Sauerland ist eine Kleinstadt mit 28.000 Einwohnern und Fachhäusern wie im Bilderbuch. Der Höhepunkt des Jahres ist das Schützenfest im Sommer. Im Winter unterhalten sich die Leute von Brilon auf der Straße über Fußball und das Fernsehprogramm. Im Stadtrat wird über Bebauungspläne entschieden. Die Lokalzeitung berichtet über die Verkehrsunfälle auf den örtlichen Bundesstraßen. Die sozialdemokratische Fraktion im Stadtrat ist sich noch nicht einig, ob sie auf das Fax von Herrn Merz überhaupt reagieren soll.

Die Lokalzeitung hat unter der Überschrift „Merz wehrt sich gegen die infame Ehrverletzung“ die Presseerklärung von Friedrich Merz zu einem Artikel verarbeitet. Auf der Straße tragen die Leute ihre Einkäufe nach Hause, sie gucken erstaunt und sagen: „Friedrich Merz? Ja, den kenn ich. Das ist ein netter Kerl!“

In „Starkes Bierbar“ am Marktplatz stehen zwei Männer am Tresen. Mit der Ernsthaftigkeit von Menschen, die viel getrunken haben, halten sich die Männer an der Theke fest, einer brüllt los: „Ich sage offen und ehrlich meine Meinung, und ich sage, dass ist ein Haufen Dreck, der Friedrich Merz und seine Sprüche!“ Sein Kumpel winkt ab. Er meint: „Das ist doch die beste Werbung, die er für unsere SPD machen kann. Da hat er mal wieder ein schweres Eigentor geschossen, der Friedrich Merz.“