: berliner szenen Schön, aber undeutlich
Abstoßende Abendrobe
Beim Dirigieren in der Berliner Philharmonie überkommen mich oft merkwürdige Gefühle. Das ist eine unheimliche Stadt hier. Manchmal sehen mich die Orchestermusiker so komisch an. Wieso habe ich mir bloß diesen Beruf ausgesucht, der es verlangt, Unmengen wild durcheinander gedruckten Fliegendreck im Kopf zu haben? Täglich muss man mit Heerscharen dilettantischer Musiker umspringen; mit kulturlosen Politikern verhandeln, die naturgemäß nicht den geringsten Sinn für Musik haben. Und allabendlich sitzt mir ein Publikumsmoloch im Rücken, den ich nicht kontrollieren kann!
Während die Tongebirge vor meinen Gebärden entstehen, denke ich oft, was für Menschen heute wohl wieder hinter mir sitzen. Sie kommen, um einen Mahler zu hören, einen Wagner, meinetwegen sogar einen Ravel. Was treibt sie her? Glauben sie wirklich, es würde große Kunst geboten? Tatsächlich regiert in der Philharmonie schon seit Jahren nurmehr noch der abgrundtiefe Stumpfsinn. Sie scheinen es nicht zu bemerken. Die Leute kommen ja nur her, weil man ihnen gesagt hat, dass ein Kulturmensch die Philharmonie aufzusuchen habe, nicht aus Interesse. Die Leute haben gar kein Interesse an der Musik, das ist die Wahrheit, mindestens 99 Prozent der Menschheit haben keinerlei Interesse an der Musik.
Sie kaufen sich diese überteuerten Eintrittskarten, ziehen ihre abstoßenden Abendkleider, ihre Armani-Anzüge an, steigen in ihren BMW, fahren her und setzen sich hinter mich! Zum Beispiel die beiden hier vorne, diese Blonde und ihr Begleiter, der Typ mit dem pathetischen Seitenscheitel! Woher mögen sie kommen, frage ich mich, während ich beginne, den Janáček zu dirigieren. Die sind bestimmt nicht von hier.
JAN SÜSELBECK