Brüsseler Budgetskandal

Chefbuchhalterin der grünen EU-Haushaltskommissarin Michaele Schreyer hatte offenbar doch Recht, als sie massive Mängel beklagte. Kommission unter Druck

„Wer die Reform anpackt, braucht das Rückgrat, um viel Scheiße zu schlucken“

BRÜSSEL taz ■ Die Affäre um Michaele Schreyers geschasste Chefbuchhalterin Marta Andreasen schlägt diese Woche in Straßburg wieder einmal hohe Wellen. Ein brisanter Brief ist aufgetaucht. Er stammt vom Chef der kommissionseigenen Management-Kontrollabteilung, dem Niederländer Jules Muis. Die fünf Seiten waren ursprünglich als interner Vermerk gedacht – für das Kabinett von Neil Kinnock, der die Reform der EU-Kommission voranbringen soll.

Muir bescheinigt Andreasen, dass ihre Kritik am Buchhaltungssystem der Kommission die entscheidenden Schwachstellen aufdeckt und von viel Fachkompetenz zeugt. Er trägt das Datum 21. Mai 2002 – sechs Tage später erteilte Schreyer Andreasen Hausverbot. Das Arbeitsumfeld von Andreasen kurz vor ihrer Beurlaubung beschreibt Muir als Szene aus einem Horrorfilm: „Personal an Schlüsselstellen krank oder beurlaubt, Bunkermentalität, Machtkonzentration beim Generaldirektor, der ihre Ernennung mit allen Mitteln verhindern wollte, eine Kommissarin, die sie nicht mehr stützte, als klar war, dass sie es mit einem Individuum zu tun hat, dessen lästige Fragen den Mittelabfluss stören und Sand ins Getriebe streuen.“ Wirklich erstaunlich ist an dem Brief, dass er immerhin zehn Monate lang intern blieb – erst letzte Woche sorgte jemand in der Kommission dafür, dass sein Inhalt tröpfchenweise an die Presse durchsickerte. Da kommenden Dienstag der Haushaltskontrollausschuss des Parlaments über die Entlastung für das Haushaltsjahr 2001 abstimmen wird, scheint das Timing nahezu perfekt.

Anfang April wird dann das Plenum des EU-Parlaments endgültig entscheiden. Verweigern die Abgeordneten die Haushaltsentlastung, käme Prodis Mannschaft – wie 1999 die Kommission unter Jacques Santer – gewaltig unter Druck. Das wollen die Sozialisten im EU-Parlament um jeden Preis vermeiden. Der zuständige Berichterstatter, Paulo Casaca, sagte der taz: „Ich habe nie bestritten, dass Frau Andreasen ihr Handwerk versteht. Sie hätte sich aber nicht politisch einspannen lassen dürfen – zum Beispiel für die irische Anti-Nizza-Bewegung.“ Der Haushaltskontrollausschuss hätte sie nicht anhören können, da über ihre Suspendierung vom Dienst noch nicht entschieden sei.

Hätte der Ausschuss sich über diese Bedenken hinweggesetzt und einen persönlichen Eindruck von Andreasens Kompetenz verschafft, hätten die Haushaltskontrolleure die Regie der Affäre nicht an die britische Sensationspresse abtreten müssen. Nun ist es für sachliche Argumente wohl zu spät. Paulo Casaca hat sich das Rechnungswesen der Kommission persönlich zeigen lassen. Auch seine Bilanz ist verheerend: Die Einzelbudgets der Dienststellen ergeben addiert nicht die Summe des Gesamthaushalts. Die Subventionszahlungen für die Bauern in den Beitrittsländern sind fehlerhaft.

Eine wirkliche Reform, so schreibt Jules Muir, würde das handgestrickte Rechnungssystem der Kommission dem Erdboden gleichmachen. „Das sollte man nur anpacken, wenn die zuständige Kommissarin das Stehvermögen und das Rückgrat hat, eine Menge Scheiße zu schlucken.“ DANIELA WEINGÄRTNER

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