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Archiv-Artikel

Dürre am Nil

Nach Jahren des Niedergangs lebt das Kino in Ägypten wieder auf. Mit derAlltagsrealität des Landes haben die meisten Streifen nichts zu tun. Aber es gibt Ausnahmen

von KRISTINA BERGMANN

Wenn in der Schlussszene des ägyptischen Films „Alimby“ der gleichnamige Bräutigam zu singen beginnt, dann summt das Publikum in Alexandria, Kairo und anderen Städten am Nil versonnen mit. Die Stimme Alimbys ist ungeschult, doch die Arie der längst verstorbenen ägyptischen Sängerin Umm Kalthum weckt zu viele Erinnerungen, als dass die Zuschauer still bleiben könnten. Plötzlich wird der Rhythmus schneller, und Alimby macht aus dem klassischen Lied mit schwingenden Hüften einen arabischen Popsong, wie er heute an jeder Straßenecke zu hören ist. Nicht nur die Hochzeitsgäste auf der Leinwand, auch das Publikum im Kinosaal springt von den Stühlen und klatscht und tanzt begeistert mit. Sie haben bekommen, was sie sich vom Kino wünschen – Unterhaltung und ein wenig Gesellschaftskritik.

Ägyptens Filmschaffen ist über achtzig Jahre alt und hatte Höhen und Tiefen. „Momentan sind wir am Beginn eines kommerziellen Aufschwungs“, meint der Kritiker Aala Karkotli. „Alimby“ ist nicht nur der Knüller des vorigen Herbstes, sondern ein Hit, wie man seit Jahren keinen mehr hatte. „Auch wenn wir uns langsam wieder hochrappeln“, sagt Karkotli, „sind die Zeiten nicht mit den Fünfzigerjahren zu vergleichen.“ Damals gab es 450 Kinos in Ägypten. Die Art-déco- und Jugendstilpracht der Säle mit bis zu zweitausend Plätzen bot den richtigen Rahmen für die Produkte der ägyptischen Filmindustrie: Melodramen, Musikfilme und Komödien. Kino war das Wochenendvergnügen.

In den Achtzigerjahren begann der Niedergang der Kinosäle. Zwei Kriege gegen Israel hatten viel Geld gekostet und den Ägyptern die Begeisterungsfähigkeit für die älteren, zumeist naiven Streifen geraubt. Ins Kino gingen vor allem Liebespärchen auf der Suche nach einem Platz zum Schmusen, und die vorderen Plätze bei den Toiletten wurden zum Tummelplatz der Schwulenszene und der Dealer. Die Islamisten, die Anfang der Neunzigerjahre die Gesellschaft zu terrorisieren begannen, verdammten die Künste. Die offizielle Filmproduktion ging auf fünfzehn Filme pro Jahr zurück.

Vor drei Jahren setzten ein paar Geschäftsleute ein Zeichen. Im oberägyptischen Assiut, das lange Jahre eine Hochburg des fanatischen Islamismus gewesen war und noch nie über einen geschlossenen Kinosaal verfügt hatte, eröffneten sie ein Einkaufscenter mit mehreren Kinosälen. Sie hatten gemerkt, dass durch die scharfe staatliche Repression die militanten Gruppen an Einfluss verloren hatten, außerdem rochen sie Geld. Das Gelingen gab ihnen Recht: Die Ägypter wollen wieder ins Kino gehen. In Kairo und Alexandria wurden seither die meisten alten Säle renoviert, mehrere Kinokomplexe entstanden.

Kurz nach der Kinoeröffnung in Assiut entwarf ein Streifen namens „Ein Oberägypter an der amerikanischen Universität Kairo“ die „Richtlinien“ des neuen Films – Witze, Slapstick und Situationskomik ohne Ende. Nach seinem überwältigenden Erfolg erklärten die Produzenten einstimmig, das Publikum wolle nur noch lachen. Heute scheinen sogar die paar Cineasten, die immer wieder versuchten, experimentelles Kino zu machen, dem Sog der Komödie nicht widerstehen zu können. Das gilt auch für den bemerkenswertesten ägyptischen Filmemacher Yussef Chahine, der mit seinen vielschichtigen politischen und sozialkritischen Filmen auch im Ausland Preise einheimsen konnte. Mit „Ruhe, wir drehen“ hat Chahine im vorigen Jahr alle Ambitionen beiseite gelassen und eine harmlose Burleske gedreht.

Mehr noch als die Produzenten sei die Mafia der Verleiher an der inhaltlichen Dürre schuld, argumentiert Karkotli. Während der Feiertage, wenn Millionen Ägypter einen Film sehen wollen, würden sie die Kinos für potenzielle Schlager reservieren und Außenseiterfilmen keine Chance lassen. Der Durchbruch von „Alimby“ ist allerdings ein Beweis dafür, dass die Mafia ausgetrickst werden kann.

Der Film wurde mit geringen Mitteln und unbekannten Darstellern gedreht und kam zunächst nur in Säle dritter Klasse. Als sich ein Triumph anbahnte, boten die Verleiher Kritiker auf, die den Streifen lauthals verrissen. „Alimby“ sei miserabel gemacht und glorifiziere mit der Darstellung eines stotternden Analphabeten und chronischen Haschischrauchers aus der Unterschicht Dummheit, Gleichgültigkeit und Drogenabhängigkeit, hieß es in der Presse. Alle Krittelei nützte nichts; der laienhafte Hauptdarsteller und der Plot um seinen hoffnungslosen Versuch aufzusteigen begeisterten die ägyptischen Jugendlichen. „ ,Alimby‘ räumt mit der Sittlichkeitsheuchelei unserer Gesellschaft auf“, erklärt eine junge Frau nach dem Filmbesuch. Versager wie ihn gebe es an jeder Straßenecke Kairos, und genau wie im Film würden in ganz Ägypten Drogen und Alkohol konsumiert.

Die Verleihermafia musste wohl oder übel den Erfolg von „Alimby“ anerkennen und brachte ihn schließlich in die besten Lichtspielhäuser. Mit „Alimby“-Drehbuchautor Ahmed Abdallah und Hauptdarsteller Mohammed Saad soll nun so bald wie möglich „Alimby II“ gedreht werden.

KRISTINA BERGMANN hat Arabisch an der American University Cairo studiert. Heute lebt sie in Kairo als Korrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung und Autorin. Unter anderem hat sie 1993 das Buch „Filmkultur und Filmindustrie in Ägypten“ veröffentlicht. Erhältlich über bergmann@intouch.com