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Archiv-Artikel

Huipuuhhh!

Alemannia Aachen und der 1. FC Nürnberg trennen sich im ersten Geisterspiel in der Geschichtedes deutschen Profifußballs 3:2 und erkennen, dass Fußball ohne Zuschauer „richtig wehtut“

AUS AACHEN BERND MÜLLENDER

Die Highlights gab es nachher. Verantwortlich waren zum Beispiel die Ordner. Die hatten sich im Laufe der 2. Halbzeit zu vernehmlich anfeuernden Grüppchen von Securitooligans zusammengerottet und feierten von den ansonsten gähnend leeren Tribünen herunter jetzt lautstark die Tabellenführung: „Spitzenreiter, hey, hey!“ Oder Aachens Spieler. Die liefen nach dem glücklichen 3:2-Sieg gegen den 1. FC Nürnberg vor den leeren Fanblock, um ihr Jubelritual zu zelebrieren. Machte ja nichts, dass die Anhänger nur in der Fantasie mitfeierten – alle hatten die schöne Geste verstanden.

Nach dem DFB-Urteil, das Spiel aus dem November (1:0) wegen Zuschauerausschreitungen zu annullieren und zuschauerlos zu wiederholen, war wochenlang diskutiert, gestritten, gegiftet und gestichelt worden. Nachher waren alle froh, dass das erste Geisterspiel in der Geschichte des deutschen Profifußballs zwischenfallfrei vorbei war. Bald zog draußen ein hupender Autokorso vorbei. Ein paar hundert Fans waren noch vors Stadion gekommen. Sie skandierten siegestrunken: „Wir woll’n die Geister sehn.“

Dazwischen lagen 90 bizarre und überaus faire Minuten Fußballsport. So vieles war so anders in der merkwürdige Tristesse der Tiefkühltruhe Tivoli. Man verstand, wie sich die Spieler anbrüllten oder der Schiedsrichter mahnte „Hände weg!“. Eine Geräuschkulisse wie in der Bezirksliga, durch die Tribünen aber wie aus einem Kaffeekessel widerhallend. Zeugen waren pro Team abgezählt 40 Beteiligte (Spieler, Betreuer, Cluboffizielle), jeweils knapp hundert Pressemenschen und Ordner, ein paar Polizisten, der Platzwart. Musik fehlte, ebenso Werbedurchsagen. Aber es gab einen Stadionsprecher. Die Zuschauerzahl zu verkünden, verkniff er sich mühsam scherzend: „An den Spätkassen wird noch gezählt.“ Immerhin konnte der Mann die Nachnamen der Alemannen fehlerlos aussprechen. Die brüllen ja sonst, die Fans.

Die Atmosphäre lähmte. Anfangs vor allem die Aachener Spieler, die orientierungslos herumliefen, als seien sie ihre eigenen Geister. Viele Spieler sagten nachher, sie hätten nicht die richtige Spannung und Selbstmotivation aufbauen können. Aachens Willi Landgraf etwa hatte schnell Probleme im Team erkannt, „die richtigen Gedanken in den Körper zu bekommen“. Auffälligerweise waren es gerade die Jüngeren und Unerfahrenen, denen der Lärmpegel am meisten zu fehlen schien. Landgraf: „Die Zeit ging einfach nicht herum. Und du spürst gar nicht, wie das Spiel so läuft.“

Das „komische Spiel“ (Clubtrainer Wolfgang Wolf) war „kein Heimspiel, sondern nur ein Spiel auf heimischem Terrain“ (Kollege Jörg Berger aus Aachen). Die Spieler fanden es schlichtweg „einfach beschissen“: „Ohne Zuschauer tut richtig weh.“ Konsequent war indes, dass Aachens Neuzugang Bachirou Salou, der sich ein halbes Jahr bei einem Landesligisten fit gehalten hatte, in seinem ersten Spiel das Siegtor schoss. Der Togolese strahlte: „Ich kenne so eine Atmosphäre eben vom SC Kapellen.“

Manche Fußball-Wahrheit schien nicht mehr zu stimmen. Trainer beklagen oft ihre geringen Einflussmöglichkeiten im Gebrodel eines vollen Stadions. Jetzt hätte Alemannias Berger seine anfangs chaotisch herumstolpernden Abwehrspieler „am liebsten lautstark so was von zusammengefaltet – aber das hätte ja jeder gehört“. Und als nach elf Minuten schon drei Tore gefallen waren, wurde schnell die These diskutiert, ob Zuschauer womöglich Gift sind für den Tordrang eines Fußballers.

Mitten auf der Haupttribüne hatte ein leibhaftiger, weiß gewandeter Geist Platz genommen, der mit seinen weiten Armen eifrig herumwedelte. Da DFB-Ehrenpräsident Egidius Braun (78), selbst ernannter einziger Ehrengast, nirgends zu sehen war, kam schnell ein Gerücht auf. Aber nicht Braun (kurzfristige Absage) war das Gespenst vom Tivoli, sondern die Frau des Alemannia-Marketingleiters. Ob es deshalb wegen unbotmäßigen Fantums eine DFB-Strafe gibt?

Derweil hatten draußen über 400 Ordner, zu ständig wichtigem Walkie-Talkie-Gewimmer, mit einer Menschenkette aus dem Stadion einen Hochsicherheitstrakt gemacht. Vergebens: Die Fans waren brav zu Hause vor den Fernsehern geblieben.