: Warnsignale für einen Genozid
US-Wissenschaftlerin präsentiert Kriterienkatalog. Doch die Realität ist komplexer
BERLIN taz ■ Lässt sich ein Völkermord wissenschaftlich vorhersagen? Zu Kontroversen führte auf der Stockholmer Genozidkonferenz eine Rede der US-Konfliktforscherin Barbara Harff, in der sie erklärte, in Birma, Burundi, der Demokratischen Republik Kongo, Ruanda und Sudan seien zukünftige Genozide am wahrscheinlichsten auf der Welt.
Die fünf Länder, so Harff, erfüllten fünf von sechs Kriterien für die Früherkennung eines Genozids. Harffs Kriterien sind: dass es schon mal einen Völkermord oder politisch motivierte Massenmorde gegeben hat; politische Instabilität seit 1988; Vorhandensein einer Elite aus einer einzigen ethnischen oder religiösen Gruppe; eine Ideologie des Ausschlusses eines Teils der Bevölkerung; die Regierungsform; die Offenheit des Außenhandels.
Dies ist Teil einer Risikoanalyse, die die Wissenschaftlerin der US-Universität Maryland erarbeitet hat. Mit diesem Modell, so Harff, „können wir den Zeitrahmen einengen und wenige Monate vor dem Beginn Warnsignale identifizieren, dass ein Völkermord im Entstehen ist“.
Auch weitere Länder sind nach Meinung der Wissenschaftlerin gefährdet. In Algerien, China, Somalia und Uganda seien vier der sechs Kriterien erfüllt, in Afghanistan, Äthiopien, Irak und Pakistan drei, sagte sie.
Die Liste ist schwer nachvollziehbar. In Sudan tobt derzeit Krieg, Burundi und Kongo versuchen mühsam, einen Kriegszustand zu verlassen. In diesen drei Ländern ist erhebliches Blutvergießen also heute im Gange oder jederzeit wieder möglich. Doch Ruanda ist seit Jahren friedlich, und die Militärdiktatur Birmas ist kaum über denselben Kamm zu scheren wie die Bürgerkriegsländer Zentralafrikas. Was die anderen acht Länder angeht, sind die jeweiligen Situationen äußerst unterschiedlich. Die Erfüllung von drei der sechs Harff-Kriterien bedeutet ja einfach, dass jedes Land völkermordgefährdet wäre, in dem es in den letzten 16 Jahren Instabilität gab und das heute von einer Diktatur regiert wird, die den Freihandel behindert.
Harffs Länderliste beruht auf der Auswertung einer Studie über Staatszerfall 1955–98, die sie mit Kollegen im August 2003 vorlegte und die sich unter anderem mit Gemeinsamkeiten bei Völkermorden beschäftigte. Darin wurde allerdings darauf hingewiesen, dass wichtige Variablen nicht berücksichtigt werden konnten, zum Beispiel das Vorhandensein von nach Gutdünken operierenden Staatssicherheitsorganen oder von auswärtiger Unterstützung für politische Akteure. DOMINIC JOHNSON