: „Ich will leben“
Seyran Ateș . . .
… ist Anwältin, Kopftuchgegnerin und Bewerberin um die Nachfolge von Barbara John als Ausländerbeauftragte. Ihr Name beschreibt zugleich ihr Leben: Seyran heißt „große Reise“, Ateș „Feuer“. 1963 in Istanbul geboren – Vater Kurde, Mutter Türkin – kam sie Ende der 60er-Jahre nach Berlin. Mit 17 hält sie die Widersprüche zwischen dem türkischen Zuhause und der deutschen Schule nicht mehr aus und haut ab. 1984 wird sie bei einem Attentat schwer verletzt, beendet dennoch ihr Studium. Ihre Biografie „Große Reise ins Feuer“ erscheint kommende Woche.
Interview SABINE AM ORDE und WALTRAUD SCHWAB
taz: Frau Ateș, wird ein möglicher Krieg im Irak Auswirkungen auf das Zusammenleben von Deutschen und Nichtdeutschen in Berlin haben?
Seyran Ateș: Vermutlich wird ein Krieg zu einer Spaltung führen. Muslime fühlen sich in die Ecke gedrängt. Ich merke, dass selbst ich den Islam als Weltreligion intensiver verteidige.
Obwohl Sie keine praktizierende Muslimin sind?
Weil über die Religion immer gleich unsere Kultur und unser Sein insgesamt angegriffen wird. Als ob wir uns wieder rechtfertigen müssen, dass wir überhaupt existieren, dass wir hier in diesem Land leben und dass es uns gibt.
Dass Ihnen das Ankommen in der Gesellschaft ein Anliegen ist, wird in Ihrem Buch „Große Reise ins Feuer“ deutlich. Warum schreibt eine 39-Jährige eine Biografie?
Weil ich an meiner Geschichte sehe, was schief gelaufen ist und welche Ignoranz zwischen den verschiedenen Kulturen besteht.
Seyran Ateș – ein Beispiel?
In meinem Leben summiert sich so viel. Ich bin mit Wut aus dem Elternhaus ausgebrochen und habe mit Wut das Attentat überlebt, das Jurastudium beendet. Ärger ist ein Motor, der mich treibt. Der große Zorn über die vermeintliche Integrationspolitik. Von A bis Z verlogen.
Das klingt sehr hart.
Ich sehe zu wenig Versuche, die unterschiedlichen Kulturen tatsächlich begreifen zu wollen und sich auf einen gleichberechtigten Dialog mit ihnen einzulassen. Das fängt schon mit Bildung an. Gewisse Menschen sind von Bildung so ausgeschlossen, dass sie eine Offenheit für eine Kultur gar nicht entwickeln können. Da mal ein bisschen Folkore oder ein bisschen orientalischen Tanz aufführen, dort mal zu einem türkischen Verein gehen, das bleibt an der Oberfläche. Ich schaue mir die Vorurteile und den Rassismus nicht nur auf der deutschen Seite an. Im Gegenteil. Ich erlebe die türkische Community als ebenso rassistisch gegenüber Deutschen und anderen Kulturen. Aber das kommt nicht auf den Tisch.
Ihre Biografie ist zuerst eher typisch für Migrantenkinder: in der Türkei geboren, dann gehen die Eltern nach Deutschland. Sie werden später nachgeholt. In Berlin werden die Mädchen ans Haus gebunden, die Brüder nicht. Danach aber verläuft die Entwicklung bei Ihnen ganz anders. Wie war das möglich?
Ich hatte das Glück, dass ich in der Gesamtschule auf einen Sozialarbeiter getroffen bin, der sich ehrlich um mich bemühte. Bei ihm konnte ich meine Rebellion gegen die Familie, wo ich mich unterdrückt und schlecht behandelt fühlte, zur Sprache bringen.
Was hat Ihnen nicht gepasst?
Ich wollte nicht mein Leben lang Dienerin sein, heiraten müssen und Kinder kriegen. Wenn ich protestierte, wurde gesagt: „So denkt kein türkisches Mädchen.“ Da dachte ich: „Ja eigentlich darf ich das nicht denken, aber ich denke es doch.“ Durch die Gespräche mit dem Sozialarbeiter stellte ich fest, dass das gar nicht so falsch ist, was ich wollte. Von zu Hause weg zu laufen war ein Riesenschritt. Mit viel Angst verbunden.
Die große Konfliktlinie für Migrantenkinder verläuft demnach zwischen der Schule und der Familie.
Ja. Da treffen Welten aufeinander. Das müssen die Kinder verkraften und verstehen. Dafür brauchen sie Ansprechpersonen.
Für Sie war der Bruch mit der Familie notwendig. Ist das oft so?
Unbedingt. Selbst wenn er vorübergehend ist. Wir werden sowieso zerrissen von Schuldgefühlen, weil wir den Bruch vollzogen haben, die Familie aber lieben und nicht ohne sie leben wollen. Wir müssen den Bruch vollziehen, um uns dann auch wieder annähern zu können. Ich lehne diese Kultur ja nicht bis in die Wurzeln ab. Ich bin sowohl türkisch als auch deutsch sozialisiert.
Welche Ihrer Erfahrungen können genutzt werden, um Mädchen, die heute in Berlin aufwachsen, zu stärken?
Den Mädchen muss zugehört werden. Mit ihnen muss ein Lebens- und Berufsweg unter Einbeziehung der Familie geplant werden. Die Familien müssen miterzogen werden. Ich wäre wirklich nicht abgehauen, wenn ich zu Hause Gelegenheit gehabt hätte, mich zu entfalten.
Glauben Sie, dass sich die Situation mit den hier aufgewachsenen Elterngenerationen verändert hat?
Kaum. Da könnte ich heulen. Die Mütter haben so viel Trauriges erlebt und geben es weiter an ihre Töchter.
Deswegen auch Ihre Kritik am Kopftuch?
Ich bin eine Gegnerin des Kopftuches. Auch den fortschrittlichen, gläubigen Frauen, die sagen, ich trage es freiwillig, antworte ich: Im Namen der Frauen, die es unfreiwillig tragen, fasst euch ans Herz und fragt euch, ob der Koran wirklich sagt, dass ihr euch bedecken müsst. Gerade wenn ihr das Kopftuch selbstbestimmt tragt, dann legt den Koran verantwortlich für die Frauen aus! Reformiert ihn! Ich meine, alles ist reformierbar, jeder Lebensstil, jede Gesellschaftsform, jede Religion.
Wenn in Deutschland entschieden wird, dass eine Verkäuferin das Kopftuch tragen darf, bedeutet das nicht umgekehrt, dass eine alte Forderung endlich eingelöst ist: die Anerkennung des Islam als hier praktizierte Religion?
Wenn radikale Positionen, die die Kulturen voneinander entfernen, abgeschafft werden, fördert das den Dialog. Das Kopftuch ist nicht religiös bedingt, es ist eine Kleiderordnung, die auf die Sexualität der Frau gerichtet ist. Hier in Deutschland ist es zudem synonym für Abgrenzung. Interessant, dass dafür die Frauen herhalten müssen.
Als Sie 20-jährig im türkischen Frauenladen arbeiteten, hatten Sie da diese Überlegungen bereits parat?
Intuitiv ja. Ich habe damals schon sehr viel Frauenliteratur gelesen. Simone de Beauvoirs Buch „Das andere Geschlecht“ zum Beispiel.
Im Frauenladen sind Sie 1984 angeschossen worden. Erinnern Sie sich noch an das Attentat?
„Das kann nicht sein. Das darf nicht sein. Das geht nicht, ich bin viel zu jung, um zu sterben. Dieser Mann, der schießt auf mich, der wird mich umbringen.“ Das waren so die Gedanken. Als ich merkte, dass ich nicht mehr atme, dachte ich „Seyran, es kommt bestimmt Hilfe. Du musst ganz ruhig bleiben. Wenn du jetzt in Panik gerätst, stirbst du.“
Sie waren also noch bei Bewusstsein?
Sie können das nicht Bewusstsein nennen. Er hat auf mich geschossen, ich war sofort weg. Ich habe mich von oben gesehen. Ich habe mich da liegen sehen. Ich habe gesehen, wie meine Kollegin telefonierte, ich habe mitbekommen, dass die Feuerwehr meine Hose nicht aufbekommen hat. Ich musste mich anstrengen. Ich musste mitmachen. „Ich will leben.“ Ich habe das helle Licht gesehen. Das war ein absolutes Glücksgefühl. Ich kann euch sagen, sterben ist gar nicht so schlimm. Es ist die Angst davor.
Ihr Überlebenswille muss enorm gewesen sein.
Wie mir erzählt wurde, hätte nach medizinischem Ermessen die andere angeschossene Frau überleben und ich sterben müssen. Aber ihr Körper hat kein Blut angenommen. Sie wollte nicht. Kurz vorher hatte sie zu einer Kollegin gesagt: „So zu leben ist schlimmer, als zu sterben.“ Dann ist sie gegangen. Viel zu früh. Sie ist 40 gewesen. So alt wie ich jetzt. Hat Kinder hinterlassen.
War es eine Strafaktion türkischer Männer gegen Frauen?
Gegen die türkischen Frauen. Dass man sich mit deutschen Frauen solidarisiert, deutsche Frauen so leben lässt, wie sie leben, das ist okay. So seien die deutschen Frauen halt. Das sind Christen. Aber dass man türkischen Frauen die gleichen Rechte geben will, das geht nicht. Das ist nicht erlaubt. Dafür mussten wir bestraft werden. Nicht ich persönlich. Ich war ja nur zufällig da.
Heute sind Sie eine passionierte Strafverteidigerin. Zu Ihren Klienten gehören türkische Kriminelle. Ist das nicht ein Widerspruch?
Zum Strafrecht bin ich gekommen, weil ich für meine Kollegin einspringen musste. Dann habe ich einen Anruf aus dem Frauengefängnis bekommen, weil eine Heroinkurierin eine Verteidigerin brauchte. Frau, kaum 20, bereits drei Kinder. Als Nächstes kamen Männer dazu. Dealer. Da musste ich Grundsätze entwickeln. Ich verteidige niemanden, der Frauen benutzt.
Widersprüche aushalten, darum geht es bei Ihnen. Was ist der persönliche Preis, den Sie für dieses Engagement bezahlen?
Ich würde gerne ankommen, gerne sagen können: „Das ist meine Stadt, das ist meine Kanzlei, das ist meine Wohnung, das ist mein Leben, ich bin ein Teil von dieser Gesellschaft.“ Aber weil ich ständig damit konfrontiert werde, dass ich doch qua Geburt nicht dazugehöre, muss ich mich engagieren.
Ist das der Grund, warum Sie sich auf das Amt der Integrationsbeauftragten in Berlin beworben haben?
Sicher. Und die Unzufriedenheit darüber, wie Integration hier betrieben wird und betrieben wurde.
Was würden Sie anders machen?
Schon das öffentliche Bild, das die Integrationsbeauftragte Barbara John derzeit in der türkischen Gemeinde hat, muss geändert werden. Sie wird als große Schwester – Abla – betrachtet. Das ist anbiedernd. Integration ist ein bilateraler Prozess. Beide Seiten, die „Ausländer“ und die „Einheimischen“, müssen zum Gelingen beitragen. Dazu müsste Bildung viel stärker thematisiert werden. Wie viele Migrantenkinder machen Abitur? Auch das Zuwanderungsgesetz muss neu in die Diskussion. Im Prinzip ist es peinlich für 40 Jahre Migrationsgeschichte, so wenig bewirkt zu haben. Es reicht nicht, sich als deutsche Abla feiern zu lassen. Man kann sie „Hanim“ nennen, die Dame.
Das würde sie zu einer Gleichwertigeren machen?
An „Abla“ kann man sehen, wie die Arbeit betrieben wird. Aus ihrem Büro heraus werden ganz bestimmte Einrichtungen protegiert und andere nicht. Moscheen und konservative Vereine jahrelang als gemeinnützige Organisationen zu unterstützen, bei deren politischer Ausrichtung aber wegzuschauen, das geht nicht. Wenn in Moscheen gegen die Deutschen und Christen gehetzt wird, muss die Integrationsbeauftragte den Mut haben, es zur Sprache zu bringen. Man kann als Integrationsbeauftragte nicht diejenigen umarmen, die gegen Integration arbeiten. Es gibt eine Verantwortung der deutschen Gesellschaft für die Zunahme fundamentalistischer Strömungen.