: Risikofaktor Zypern
Der türkische Regierungschef Erdogan setzt auf eine politische Lösung des Inselkonflikts. Führt die Strategie nicht zu einem Datum für EU-Beitrittsverhandlungen, wird er stürzen
Noch einmal in diesem Frühjahr wird die Mittelmeerinsel Zypern Weltpolitik machen. Danach wird sie dann hoffentlich endgültig zu dem, was sie bereits jetzt überwiegend ist: ein großes, wunderschönes Feriendomizil für den Rest Europas. Noch aber ist Nikosia die letzte durch Stacheldraht und Mauer getrennte Hauptstadt des alten Kontinents, und das schon seit 40 Jahren.
In diesem Frühjahr nun wird sich entscheiden, ob die Trennung aufgehoben wird und ein Prozess der Versöhnung und der Annäherung stattfindet. Es ist der letzte Anlauf, aber auch der am meisten Erfolg versprechende. Dafür gibt es mehrere Gründe. Am 1. Mai wird die Republik Zypern EU-Mitglied. Den Vertrag mit der EU hat die griechische Regierung Zyperns abgeschlossen, die zwar international als einzig legitime Regierung anerkannt ist, im türkischen Nordzypern aber nichts zu melden hat.
Lange Jahre galt in Ankara die Maxime „Keine Lösung ist die Lösung“, mit anderen Worten, der Status quo ist okay. Diese Position geriet erstmals vor zwei Jahren ins Wanken, als sich abzeichnete, dass die EU trotz heftiger türkischer Proteste Ernst machen wird und Zypern zur Not eben auch ohne eine vorherige Wiedervereinigung aufnehmen wird. Erstmals gab es direkte Gespräche auf Zypern, die aber zu keinem substanziellen Durchbruch führten. Am Ende zog sich UN-Gastgeber Alvaro de Soto zurück und legte in Absprache mit dem UN-Generalsekretär den so genannten „Annan-Plan“ vor, dem beide Seiten nun zustimmen sollen. Grob vereinfacht sieht der Plan vor, dass nach dem Schweizer Modell eine Zentralregierung und zwei sehr autonome Kantone die zukünftige Republik Zypern bilden. Der Präsident Nordzyperns, Rauf Denktasch, hat diesen Plan abgelehnt, zum einen weil sein schöner Staat damit verschwinden würde, zum anderen aber weil seiner Meinung nach der Annan-Plan nicht verhindert, dass die knapp 200.000 Türken in der zukünftigen gemeinsamen Republik von den 800.000 Griechen erneut untergebuttert würden. Wenn auch nicht gleich wie in den 60er-Jahren mit Gewalt vertrieben, so doch marginalisiert.
Diese Ängste – und das ist die zweite große Veränderung auf Zypern – werden aber von immer weniger türkischen Zyprioten geteilt. Anfang 2003 entstand eine Massenbewegung für eine Lösung auf Grundlage des Annan-Plans, die bei den Wahlen im Dezember exakt die Hälfte der Parlamentssitze erringen konnte und nun den Ministerpräsidenten stellt. Auf der anderen Seite stehen Denktasch und ein Teil der türkischen Armee. Als die Armee 1974 auf Zypern als Schutzmacht der türkischen Zyprioten intervenierte, hatte sie zunächst die internationalen Sympathien auf ihrer Seite, weil griechische Nationalisten, die den Anschluss der Insel ans Mutterland wollten, dabei waren, die türkische Minderheit mit Gewalt zu vertreiben. Doch die Armee begnügte sich nicht mit einer humanitären Aktion, sondern besetzte ein gutes Drittel der Insel, auch deshalb, um den Mittelmeerzugang für ihre Flotte zu sichern. Die Insel liegt wie ein großer Sperrriegel vor den beiden wichtigsten türkischen Häfen, Iskenderun und Mersin. Ein Verlust Zyperns, hat deshalb noch kürzlich ein hoher türkischer Militär behauptet, nagelt die Türkei in Anatolien fest.
Der wichtigste Grund, warum eine Lösung jetzt dennoch näher rücken könnte, ist die Verknüpfung zwischen Zypern und dem türkischen Wunsch, im kommenden Jahr Beitrittsgespräche mit der EU aufzunehmen. Nachdem Erdogan dies akzeptiert hat, versucht er seine Militärs und die widerstrebende Bürokratie davon zu überzeugen, dass der Beitritt zur EU über eine politische Lösung auf Zypern führt. Gleichzeitig muss Erdogan dafür sorgen, dass vor allem die ältere Generation auf Zypern ihre Ängste überwindet, und dafür braucht er Partner auf der Insel. Das Patt bei den Wahlen hat es aber unmöglich gemacht, Denktasch einfach beiseite zu schieben. Erdogan und seine Mannschaft wollen deshalb jetzt die Verhandlungsebene wechseln. Sein Vorschlag gegenüber Kofi Annan am letzten Wochenende in Davos, einen neuen Vermittler einzuschalten, zielt nicht darauf ab, de Soto durch einen anderen UNO-Diplomaten zu ersetzen, sondern eine andere Verhandlungsrunde zu bilden.
Bei dem Treffen Erdogans mit US-Präsident George W. Bush am Mittwoch wurde vereinbart, dass US-Außenminister Colin Powell sich in die Zyperngespräche einschaltet. In welcher Rolle genau, ist noch unklar und hängt auch von Kofi Annan ab. Das Ziel ist jedoch klar: Erdogan will die USA möglichst hochrangig in eine Zypernlösung einbinden, weil er auf türkischer Seite damit das Militär und Denktasch am ehesten neutralisieren kann und weil er hofft, dass auch Griechenland einen unter UN plus US-Vermittlung erarbeiteten Kompromiss nur schwer ablehnen kann. Das zeigte sich schon in dieser Woche. Nach anfänglichem Zögern hat auch der griechische Zypernpräsident Papadopulos am Mittwoch versichert, seine Regierung sei bereit, die Verhandlungen wieder aufzunehmen.
Wenn im Februar die Verhandlungen beginnen, wird der internationale Druck ein bislang nicht gekanntes Maß erreichen. Annan hat bereits gefordert, die Parteien müssten sich bis Ende März so weit verständigt haben, dass im April auf beiden Seiten Zyperns ein Referendum stattfinden kann. Erdogan hat sowohl gegenüber Romani Prodi wie Bush angekündigt, dass eine Lösung dieses Mal nicht an der Türkei scheitern wird. Er wird alles dafür tun, entweder tatsächlich bis Mai ein Ergebnis zu erzielen oder wenigstens den Eindruck aufrechtzuerhalten, dass im Zweifelsfall der schwarze Peter auf der griechischen Seite liegt.
Erdogan geht mit seiner Zypernpolitik ein hohes Risiko ein. Von den Nationalisten, auch den uniformierten, wird er bereits als Verräter gebrandmarkt, der Zypern an die EU verkauft. Erdogan kann damit leben, wenn das Geschäft auch wirklich zustande kommt. Seine gesamte Politik zielt darauf ab, von der EU grünes Licht für Beitrittsgespräche zu bekommen. Er hat sich lange dagegen gewehrt, dass die EU neben den Kopenhagener Kriterien auch Zypern zur Voraussetzung für Gespräche gemacht hat. Nachdem er nun auch die Zypernfrage angenommen hat, turnt er auf einem Hochseil ohne Netz. Gibt es Ende des Jahres für die Türkei kein Datum für Beitrittsverhandlungen, stürzen Erdogan und seine Regierung ab. Mit der Stabilität in der Türkei wäre es dann erst einmal wieder vorbei. Nationalisten und Militär bekämen wieder die Oberhand, der wirtschaftliche Aufschwung dürfte ein abruptes Ende nehmen. Doch nicht nur innenpolitisch wäre eine Ablehnung der Türkei durch die EU ein schwerer Rückschlag für Demokratie und Wohlstand. Auch außenpolitisch hätte es erhebliche Konsequenzen. Die türkischen Truppen blieben auf Zypern, das Klima zwischen der Türkei und Griechenland würde sich wohl erheblich verschlechtern. Vor allem wäre nicht klar, wozu die dann einsetzende Suche nach einer Alternative zu Europa letztlich führt. Jedenfalls kaum zu Stabilität in der Region.
JÜRGEN GOTTSCHLICH