: Völker ohne Recht
Mit dem Irakkrieg bringen die USA die Beweispflicht des Angeklagten und das „kumulative Beweisverfahren“ ins Völkerrecht – und schaden ihm damit fundamental
Der Krieg der US-Administration gegen den Irak basiert auf einem juristischen Modell, das bisher im internationalen Recht ohne Beispiel ist: Der Bedrohte hatte zu beweisen, dass ein Angriff auf ihn ungerechtfertigt ist. Bisher galt: Solche Beweismittel haben diejenigen zu erbringen, die den Krieg führen wollen.
US-Außenminister Colin Powell hat eine Beweisführung im bisher völkerrechtlich üblichen Sinne vor dem UN-Sicherheitsrat versucht. Allerdings geht die Aussagekraft der von ihm vorgelegten Beweismittel nicht über Indizien, Vermutungen und Befürchtungen hinaus. In keinem rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren der Welt könnte man jemanden auf einer solchen Basis verurteilen. Gerade aber die Art von Powells Präsentation im Stil eines Chefanklägers führt dazu, dass man diese auch wie in einem Strafverfahren bewertet wissen will. Auf das Völkerrecht angewandt heißt dies, dass die USA den UN-Mitgliedstaaten erst einmal hätten beweisen müssen, warum im Falle des Irak eine Ausnahme gegen das allgemeine Gewaltverbot gelten soll.
Die Bush-Regierung aber hat genau dies umgangen, indem sie aus der UN-Resolution 1441 ableitete, dass der Irak seine Unschuld zu beweisen habe. Weil er dies nicht konnte, sei der Krieg gegen ihn legitimiert. Das internationale Recht kennt aber die Beweislastumkehr nicht. Sie wäre auch nicht wünschenswert, denn jeder Unschuldsbeweis ließe sich in diesem Fall a priori zurückweisen: Denn dann bliebe es ausschließlich – in Abwesenheit völkerrechtlicher Kriterien – der Willkür des Anklägers überlassen, was er als Unschuldsbeweis anzuerkennen bereit ist.
Aus dieser schwerwiegenden Falle für die internationale Staatengemeinschaft hätte nur die Bush-Regierung hinausweisen können, wenn sie gerichtsfeste, unwiderlegbare Fakten präsentiert hätte, die die Schuld Bagdads unzweifelhaft belegt hätten. Dann wäre die Diskussion um die Legitimität eines Krieges hinfällig gewesen, obwohl auch dann dieser erst der Zustimmung des UN-Sicherheitsrats bedurft hätte.
Als Präventivkrieg ist er hingegen auch dann nicht legitimiert. Denn die USA müssten die Notwendigkeit der unmittelbaren Selbstverteidigung gemäß der Caroline-Klausel begründen. Diese völkerrechtlich bis heute anerkannte Klausel entstand 1837, als an der Grenze zum britisch-kolonialen Kanada das US-Dampfschiff „Caroline“ von britischen Truppen gekapert und anschließend die Niagara-Wasserfälle hinabgestürzt wurde. Der damaligen Argumentation Großbritanniens, dass es sich um eine „antizipierende Selbstverteidigung“ gehandelt habe, widersprach die amerikanische Regierung vehement, indem sie Kriterien der gebotenen Beschränkung entgegenstellte. Diese so genannten Caroline-Kriterien beinhalten, dass weder Verhandlungen mehr möglich noch andere Mittel mehr einsetzbar sind.
Die USA können sich also genau auf diese Variante nicht berufen. Ein bewaffneter Angriff auf die USA oder einen Anrainerstaat des Iraks, der die Hilfe der Vereinigten Staaten bedurft hätte, stand nicht unmittelbar bevor, und niemand in Washington hat dies behauptet. Von einem „präemptiven Krieg“ ganz zu schweigen. Ein „präemptiver Krieg“, also ein Krieg, der das Aufkommen möglicher Gefahren bereits im Keim ersticken soll, ist völkerrechtlich nämlich gar nicht vorgesehen und somit untersagt.
Beweise für eine unmittelbare irakische Aggression haben die Regierungen in Washington und London also nicht beibringen können. Vielmehr halten beide den Irakkrieg schon dadurch für legitimiert, dass sie im kumulativen Verfahren die Beweise und Indizien der letzten zwölf Jahre heranziehen. Saddam Hussein wird also nicht einmal der völkerrechtliche Bruch der aktuellen Resolution 1441 nachgewiesen, sondern die amerikanisch-britische Beweislast leitet sich vielmehr aus der mangelnden Kooperation gegenüber den UN-Resolutionen des letzten Jahrzehnts ab.
Dies wird unterstrichen, indem darauf hingewiesen wird, dass die UN-Inspekteure nicht zum Suchen und Finden der Massenvernichtungswaffen in den Irak geschickt wurden. Suchen sei nicht ihre Aufgabe gewesen, argumentieren die Regierungen in Washington und London, sie seien nur zum Prüfen im Irak gewesen. Die Vernichtung der Massenvernichtungswaffen hätte Saddam Hussein von sich aus leisten müssen.
Was aber versucht Washington mit einem solchen „kumulativen Beweisverfahren“ völkerrechtlich zu etablieren? Die neokonservative Regierung Bush will vermutlich eine innenpolitisch zweifelhafte, aber seit einigen Jahren angewandte Rechtspraxis in das internationale Recht implementieren, nämlich der dem Volkssport Baseball entlehnten Maxime und neuamerikanischen Rechtsregel: „Three strikes and you are out.“ Als „Striker“ werden in Amerika lebenslänglich Inhaftierte bezeichnet. Die Maxime ist eine Erfindung des kalifornischen Strafrechts. Die Regel besagt, wer drei Straftaten begeht, ist draußen.
Das heißt: Die dritte Tat wird automatisch mit 25 Jahren bis lebenslänglich geahndet, auch dann, wenn die ersten beiden Taten nur solch geringfügige Delikte wie Ladendiebstahl umfassten. 1994 war diese Regel von 72 Prozent aller Kalifornier beschlossen worden. Damit wurde eine Art Blitzkrieg gegen das Verbrechen eingeleitet. Es scheint, als ob diese Regel als Rechtsmaxime nun auch in US-geführten internationalen Kriegen gegen Schurkenstaaten Anwendung finden soll. Nur durch Kumulation aller Fehlverhalten, Regelverstöße und möglicher Indizien wurde ein angeblich hinreichender Kriegsgrund seitens der USA und Großbritanniens konstruiert.
Historiker werden ihn im Rückblick sicher als völkerrechtswidrig beurteilen – aber gleichfalls wird als historische Zäsur festgehalten werden können, dass es nie Ziel der Angriffskrieger war, hinreichende Beweise zu liefern. Vielmehr zielten die beiden Regierungen auf eine Neujustierung der Zweck-Mittel-Relation im internationalen Recht. Die Verhältnismäßigkeit der Mittel zum Zweck des Krieges leiteten sie dabei von einem von Colin Powell selbst so bezeichneten „Jahrzehnt von Beweisen“ ab.
Wenn die USA die Normen der Staatengemeinschaft brechen, kann deren Geltung aber auch von den USA nicht länger eingefordert werden. Denn wenn die Hegemonialmacht, die das internationale Recht eigentlich garantieren sollte, dieses ignoriert, dann ist es zwangsläufig auch hinfällig für andere Staaten. Es ist nicht erkennbar, wer dessen Durchsetzung noch im Namen des Rechts erzwingen könnte. Das Vorgehen der USA berührt also das Fundament der internationalen Rechtsordnung. Zu glauben, dass dies nur zufällig sei, erscheint ebenso naiv wie zu glauben, dass die Weltmacht USA kraft ihrer Überlegenheit im Alleingang eine komplexe Weltordnung zusammenhalten kann. Für diese Erosion des Völkerrechts könnten die USA in naher Zukunft noch einen bitteren Preis zahlen. ULRICH ARNSWALD