Das graue Haar im Waschbecken

Bei Wohnprojekten für Menschen, die gemeinsam alt werden wollen, trifft Anfangseuphorie auf Alltagsfrust. Doch die meisten wollen nicht aufgeben, denn die Projekte sind ein Zukunftsmodell

VON MAREN BEKKER

„100 Jahre Einsamkeit“ – die großen Buchstaben auf einem der vielen Buchrücken im Regal im Wohnflur, stechen ins Auge. Der Flur ist gelb, in Terrakottatöpfen wachsen Gummibäume und Palmen. Niemand hält sich hier auf. An einer geschlossenen Tür hängt ein Zettel: „Marcella, würde gerne mit dir die Auferstehungskirche besichtigen, melde dich.“ Hinter einer anderen rauscht ein Radiosender.

Der geräumige Flur ist der so genannte Laubengang des „Bunten Hauses“ in Steglitz. Fast hundert Menschen leben hier. Elf von ihnen, die Frauen der zweiten bis vierten Etage in Aufgang 8, wollen gemeinsam alt werden. Vor zehn Jahren haben sie sich zum GWA (Gemeinsam Wohnen und Altwerden) zusammengeschlossen. „Wir sind ein Pilotprojekt“, sagt die Soziologin Heike Grünewald von GWA. Die meisten Frauen, mittlerweile sind sie zwischen 62 und 82 Jahre alt, wohnen seit Fertigstellung des Hauses 1996 hier. Gemeinsam mit den Architekten haben sie es entworfen. Ihre Apartments führen auf den Wohnflur. Heute sind alle Türen zu.

„Zuerst war die Euphorie groß“, erzählt eine Bewohnerin. „In den ersten Jahren gab es Grillfeste und Trödelmärkte im Innenhof.“ Mittlerweile sei die Stimmung etwas verhaltener, es komme zu „Grüppchenbildung, ein paar Streitereien.“ Heike Grünwald will die Probleme nicht dramatisieren: „Die Euphorie flaut ab – ein normaler Prozess.“ Sie glaubt, dass viele mit „überzogenen Harmonievorstellungen plötzlich auf dem Boden landen“. Familienleben sei schließlich auch nicht immer einfach.

„Das ist wirklich wie eine Familie“, seufzt eine Bewohnerin, die gerade auf dem Weg zum Einkaufen ist. Sie wohnt seit fünf Jahren im Bunten Haus. Nun will sie ausziehen. „Ich bin an meinem Traum vom Zusammenwohnen gescheitert“, sagt sie resigniert. Sie habe die anderen zu wenig gekannt, bevor sie einzog. „Bald wohne ich wieder allein, das entspricht mir mehr“, sagt sie und steigt in den Bus.

Solche Fluktuationen gibt es in der Hausgemeinschaft von „Offensives Altern“, einem weiteren Projekt dieser Art im Neuköllner Ortolanweg, ebenfalls, wie Usha Sadowski, eine der Mitbegründerinnen, bestätigt. 21 Frauen aller Altersklassen und ihre Kinder leben hier seit 4 Jahren zusammen. Usha Sadowski ist seitdem um einige Illusionen ärmer: „Die Gemeinschaft ist nicht so gewachsen, wie ich mir das vorgestellt habe“, erzählt sie. „Die Lebensauffassungen von Jung und Alt sind oft zu unterschiedlich.“ Aber aufgeben will sie auf keinen Fall, zu sehr liegt ihr das geräumige Haus mit Garten am Herzen, zu lange hat sie darum gekämpft. „Bei uns läuft schon vieles gut – aber einiges quer“, zieht sie Bilanz.

Eine andere Bewohnerin des Ortolanwegs ist frustriert. Sie will anonym bleiben – nur kein zusätzliches Streitpotenzial. Sie wundert sich, dass es so wenige generationenübergreifende WGs gibt. Und dass die bestehenden mit den immer gleichen Problemen hadern: Haare im Waschbecken und offene Zahnpastatuben. „Hinter welchen Öfen sind die geblieben, die immer gesagt haben, wir machen später alles anders?“ Nur der gemeinsame Wunsch, nicht allein zu leben, sei vielleicht doch nicht ausreichend, um eine Gruppe dauerhaft zusammenzuhalten. „Man bräuchte ein übergeordnetes Interesse wie Kunst oder Spiritualität“, schlägt sie vor.

Bei der Hofgemeinschaft in Großwoltersdorf ist es vielleicht das gemeinsame Interesse am alternativen Leben auf dem Lande. Mitbegründerin Gudrun Löffler ist in Eile: „Der Fliesenleger kann jeden Moment kommen.“ Viel gibt es noch zu tun auf dem alten Bürgermeisterhof. Gerade erst sind die 11 Erwachsenen – die Älteste ist 68 – und ihre Kinder in die neu entstandenen Wohnungen eingezogen. Die Stimmung ist gut – euphorisch war sie nie. „Man muss realistisch sein“, so Gudrun Löffler. „Von Anfang an war klar, dass es ohne Hilfe von außen nicht geht.“ Seit zwei Jahren gibt es die Gruppe, seitdem gehen sie regelmäßig zur Supervision. Wichtig sei außerdem, Frustphasen mit gereizter Stimmung als Übergangsphasen zu sehen, glaubt sie.

So gesehen sieht selbst die enttäuschte Bewohnerin aus dem Ortolanweg Hoffnung für die gebeutelten Alten-WGs: „Langsam kommen die 68er in die Jahre, die kennen das Zusammenleben mit anderen schon und sind vielleicht etwas offener und toleranter. Sie scheuen sich nicht so, Probleme anzusprechen und Konflikte auszutragen.“ Außerdem gebe es im Ortolanweg zumindest eine Gruppe, bei der das Miteinander hervorragend klappt: „Die Kinder! Die halten immer zusammen.“