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Archiv-Artikel

Im Sinne der NS-Führung

Dieter Pohls neue Studie über den Vernichtungskrieg der deutschen Wehrmacht im Osten und den Staatsterrorismus in den besetzten Gebieten

VON CHRISTIAN STREIT

Zwischen Juni 1941 und Juni 1944 war ein großer Teil der westlichen UdSSR von der deutschen Wehrmacht besetzt. Die umfassende Geschichte dieser „brutalste[n] militärische[n] Besatzungsherrschaft, die die Geschichte bis dahin gekannt hatte“, hat nun Dieter Pohl recherchiert. Er konzentriert sich dabei auf das eigentliche Frontgebiet und die rückwärtigen Gebiete der Heeresgruppen und Armeen, das heißt das Gebiet, in dem das Oberkommando des Heeres (OKH) die Verfügungsgewalt hatte. Die Frage ist, wie die Heeresführung, die Truppenführer an der Ostfront und die Truppe zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik standen. Im Einklang mit der neueren Forschung ist Pohl an den „Wechselwirkungen von Systemzwängen und Handlungsspielräumen“ interessiert.

Pohl präsentiert dabei eine Fülle neuer Fakten. Wer weiß etwa, dass zur Unterbringung deutscher Soldaten in den Städten rücksichtslos ganze Viertel geräumt wurden? Dass sich Armeebefehlshaber sorgten, deutsche Soldaten könnten mit sowjetischen Frauen mehr als eine Million Kinder zeugen? Dass die Armeen schon Zehnjährige zur Zwangsarbeit rekrutierten? Dass in besetzten Städten wie Charkow Zehntausende verhungerten und die Säuglingssterblichkeit auf 50 Prozent stieg?

Im Zentrum stehen die großen Verbrechen, an denen die Wehrmacht beteiligt war – das Hungersterben der sowjetischen Kriegsgefangenen, der Völkermord an den Juden, die exzessive Gewalt bei der Bekämpfung angeblicher und tatsächlicher Partisanen, die Zwangsarbeit von Millionen Zivilisten, die brutalen Zwangsevakuierungen von hunderttausenden sowjetischen Zivilisten bei den Rückzügen. Pohl betont mit guten Gründen, dass das OKH, das vielfach immer noch als militärfachlich orientiert angesehen wird, eine eindeutig völkerrechtswidrige Kriegführung plante, noch bevor Hitler selbst in die Vorbereitungen eingriff. Das galt auch für die beispiellos radikale Ausbeutungspolitik, die das Hungern und Verhungern von Millionen Kriegsgefangenen und Zivilisten zur Folge haben musste.

Die zentrale Verantwortung dafür lag beim Generalquartiermeister des Heeres, General Wagner, in dessen Abteilung die Auffassung herrschte, „dass das Leben eines Russen wenig wert sei und dass die Juden ‚weg‘ müssten, auf welche Art auch immer“. Die deutsche Seite begann den Krieg mit maximaler Gewalt. Die These, erst die Entdeckung von Massenmorden in NKWD-Gefängnissen habe zu einer Radikalisierung der deutschen Kriegführung geführt, weist Pohl zurück. Dies sei in erster Linie dazu genutzt worden, „ohnehin geplante Gewaltmaßnahmen mit scheinbarer Legitimität zu versehen“. Der Autor belegt für alle Frontbereiche, dass die Truppe schon in den ersten Tagen tausende Zivilisten und Kriegsgefangene erschoss, sich aktiv an der Ermordung der jüdischen Bevölkerung beteiligte und die sowjetischen Kriegsgefangenen kollektiv verhungern ließ.

Die vor kurzem von Klaus Jochen Arnold wiederbelebte Verteidigungsthese aus den Nürnberger Prozessen, das Massensterben der Gefangenen sei durch eine unvorhersehbare Transport- und Versorgungskrise bedingt gewesen, sei „nicht einmal die halbe Wahrheit“, so Pohl. Das Hungersterben sei „auf eine bewusste politische Entscheidung“ zurückzuführen, die von der Heeresführung umgesetzt wurde. Pohl schätzt die Zahl der Opfer allein im Heeresgebiet auf etwa eine Million.

Pohl recherchiert ein Bild enger Zusammenarbeit von Wehrmacht und SS-Einsatzgruppen. Aus der Tatsache, dass Heeresverbände vom ersten Tag an ohne jede zentrale Steuerung brutal und antisemitisch geleitet agierten, schließt er auf ein „hohes Maß an Konsens unter den verantwortlichen Militärs“ in dieser Frage. Große Teile des Heeres akzeptierten die mit dem Angriff beginnenden Massenerschießungen jüdischer Männer durch SS und Polizei. Ein wesentliches Motiv war dabei die auf dem Feindbild vom „jüdischen Bolschewismus“ basierende Auffassung, die Ermordung der Juden beseitige Sicherheitsrisiken in den rückwärtigen Gebieten. Bedenken kamen auf, als auch Frauen und Kinder in die Morde einbezogen wurden – in Teilen des Offizierkorps und der Mannschaften, kaum aber in der Generalität. Weitgehend unbekannt war bisher, wie die Geheime Feldpolizei an den Verbrechen beteiligt war. Auf ihr Konto geht nachweislich der Mord an 35.000 Juden und Kommunisten, was, so Pohl, „der Mordstatistik eines Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei“ entspricht.

Die Handlungsspielräume, die das Führungspersonal bis hinunter zu den Ortskommandanten und Kompaniechefs – freilich in unterschiedlichem Ausmaß – hatte, seien nur manchmal genutzt worden.

Keine Illusionen lässt sein Urteil über die Generäle: Bekennende Nationalsozialisten seien unter ihnen sicher eine Minderheit gewesen, aber „sie alle agierten auf der Basis eines nationalistisch-rassistischen Grundkonsenses, vor allem in Rahmen der kriminellen Planung und Befehlsgebung“, und führten die Besatzungspolitik im Sinne der NS-Führung aus. Dem entspricht seine Einschätzung, „dass die Zahl der Divisionen, in denen keine Kriegsverbrechen […] verübt wurden, eher gering zu veranschlagen ist“. Es seien vor allem einfache Soldaten und Offiziere gewesen, die in diesem „gigantischen verbrecherischen Unternehmen“ ihre Menschlichkeit zu wahren suchten.

Pohl ist einer der besten Kenner des Ostkriegs und des Genozids an den Juden. Seine Recherche stützt sich auf eine äußerst gründliche Auswertung der inzwischen fast unüberschaubaren Literatur und von Akten aus deutschen Archiven und Archiven der ehemaligen UdSSR – bis hin zu so entlegenen Beständen wie denen der Reichskreditkasse, bei der die Feld- und Ortskommandanten die Wertsachen der ermordeten Juden ablieferten.

Dieter Pohl: „Die Herrschaft der Wehrmacht. Deutsche Militärbesatzung und einheimische Bevölkerung in der Sowjetunion 1941–1944“. Institut für Zeitgeschichte (Hg.), Oldenbourg Verlag, München 2008, 399 Seiten, 39,80 €