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Archiv-Artikel

Die deutsche Halbtagsschule, ein Sonderfall

Pisa und die Folgen: Die Reform des Bildungswesens erscheint als Mammutaufgabe. Das liegt auch daran, dass die Halbtagsschule in Deutschland eine lange historische Tradition hat. Die taz dokumentiert die überarbeitete Fassung eines Vortrags der Bremer Pädagogik-Professorin Karin Gottschall

Handlungsbedarf ist unumstritten, aber Reformen nicht so einfachAndere Länder entwickelten höhere DurchlässigkeitenDas Halbtagschulsystem hatte vor allem Folgen für die Familie

Von Karin Gottschall

Nach einem gewissen Debattenstillstand in den 80er- und 90er-Jahren ist die bildungspolitische Diskussion neu eröffnet. Und anders als in den ideologisch geprägten Auseinandersetzungen um die Einführung von Gesamtschulen in den siebziger Jahren scheint nunmehr Einigkeit zu bestehen, dass die Halbtagsschule als reine Unterrichtsschule wenn nicht abgelöst, so doch ergänzt werden muss um Ganztagsschulangebote.

Wenn also der Handlungsbedarf unumstritten ist, was spricht dann gegen zügige Reformen? Tatsächlich sind Reformen in diesem Feld aus verschiedenen Gründen nicht so einfach zu bewerkstelligen. Nicht nur, weil die aktuelle Einigkeit im Hinblick auf die Ganztagsschule möglicherweise mehr von wahltaktischen Erwägungen als von nachhaltigem Reformwillen getragen ist.

Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, dass die Halbtagsschule in Deutschland eine vergleichsweise lange historische Tradition hat. Das Halbtagsschulsystem in Deutschland, so die hier vertretene These, ist sozusagen zentraler Bestandteil einer soziopolitischen und soziokulturellen Gesamtkonstellation, die sich vom Kaiserreich Ende des 19. Jahrhundert bis in das wiedervereinigte Deutschland zum Ende des 20. Jahrhunderts fortgesetzt hat.

Die uns heute geläufige Halbtagsschule als reine Unterrichtsschule hat ihren historischen Ausgangspunkt gegen Ende des 19. Jahrhunderts. Damals entstand in Deutschland aus einem vorher geteilten, vor- und nachmittäglichen Unterricht die Vormittagsschule, die auch in Polen und Österreich übernommen wurde. In anderen Ländern, wie den USA und England, aber auch in Frankreich blieb dagegen die ursprünglich ganztägige Schulorganisation erhalten und wurde zu Beginn des 20. Jahrhundert allmählich in eine moderne Ganztagsschule umgewandelt.

Dabei übernahm die Schule zusätzliche, über den Unterricht hinausgehende Aufgaben im Bereich der Freizeiterziehung, in der Sozialpolitik (etwa durch den täglichen kostenlosen Mittagstisch) und auch im Hinblick auf die Herstellung von Chancengleichheit (etwa durch die Förderung schwacher Schüler).

Die deutsche Halbtagsschule ist freilich auch im eigenen Lande nicht ohne Kritik geblieben. Im Kaiserreich und in der Weimarer Republik entstanden zahlreiche Reformbewegungen, die sich zum Teil am Vorbild der angelsächsischen Gesamtschulen orientierten. Sie strebten Schulen an, die neben Mittagsmahlzeit und Freizeitangeboten vor allem auch durch eine flexible Stundenplangestaltung, eine Öffnung der Schule zum „Leben“ und eine gewisse Schulautonomie und Schülerselbstverantwortung charakterisiert sein sollten.

Gleichwohl sind diese Reforminitiativen über einzelne Modellschulen hinaus nicht erfolgreich gewesen. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass das etablierte Halbtagsschulsystem zunehmend eine wichtige Funktion für die soziale Positionierung einzelner gesellschaftlicher Gruppen übernahm.

So wurde mit der Verallgemeinerung der Halbtagsschule in Deutschland zugleich auch eine sozial wirksame Gliederung des Schulsystems eingeführt. Bereits Ende des 19. Jahrhunderts existierte in Abgrenzung zur Volksbildung ein höheres Bildungswesen; als Berechtigungssystem ausgestaltet, diente es als Rekrutierungsfeld für Verwaltungslaufbahnen in der staatlichen Bürokratie.

Diese Struktur wurde sukzessive in eine Dreigliedrigkeit überführt, indem das bestehende, vergleichsweise pluralistische und durchlässige Sekundarschulwesen bis zum Ende der Weimarer Republik in ganz Deutschland vereinheitlicht und hierarchisiert wurde.

Damit entstanden zugleich verbindliche Definitionen von Schulabschlüssen und Zugangsberechtigungen zu weiterführenden Schulen, die von den Unterschichten nicht zuletzt deshalb toleriert wurden, weil mit der Einführung der Sozialversicherung wie auch mit der Etablierung von Facharbeiterausbildungen auch Arbeiterfamilien Schutz vor Existenzbedrohung und eine gewisse Aussicht auf Aufstieg geboten wurden.

Dabei setzte sich in Deutschland, wesentlich gefördert durch eine staatliche Mittelstandspolitik, anders als in England, Frankreich und den USA, mit der dualen Berufsausbildung ein an der handwerklichen Meisterlehre orientierter Ausbildungstypus durch. Er verband eine praktische Ausbildung in einem privaten Betrieb mit einem obligatorischen Besuch von zunächst noch privaten, später durchweg öffentlichen Berufsschulen. Demgegenüber entwickelten die Bildungssysteme anderer Länder höhere Durchlässigkeiten zwischen Allgemein- und Berufsbildung einschließlich geringer strukturierter Formen der Berufsausbildung.

Von den genannten Vorteilen eines geregelten Übergangs von der allgemeinbildenden Schule in eine betriebliche Berufsausbildung konnten weibliche Jugendliche nicht in gleichem Maß profitieren. Denn für die Bereiche Kinder- und Krankenpflege, Hauswirtschaft und auch Erziehung/Sozialarbeit wurden nur Ausbildungsmöglichkeiten in Form von so genannten weiterführenden Mädchenschulen geschaffen. Diese Ausbildungen sollten, anders als die am männlichen Familienernährer orientierten Facharbeiterausbildungen, auf Familienaufgaben vorbereiten oder aber im Fall der Nichtverheiratung auf Engagement im Bereich wohltätiger und öffentlicher sozialer Dienste. Kindererziehung war vorrangige Aufgabe der Familie. Das um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert etablierte Halbtagschulsystem hatte nicht nur Folgewirkungen für den Arbeitsmarkt, sondern vor allem auch für die Familie. Denn die Halbtagsschule enthielt keine Mittagsverpflegung. Darüber hinaus bedeutete die Konzeption einer auf wenige Stunden begrenzten Unterrichtsschule, dass im Unterricht Stoffvermittlung im Vordergrund stand und ergänzende Übungen in Form von Hausaufgaben außerhalb der Schule erfolgen mussten. Die Halbtagsschule setzt also die nicht erwerbstätige Hausfrau und Mutter voraus, die mittags für eine warme Mahlzeit sorgt und sich um die Hausaufgaben kümmert; sie impliziert weiter, dass es einen Ehemann und Vater gibt, der einen für die Familie ausreichenden Lohn nach Hause bringt. Tatsächlich kam in Kaiserreich und Weimarer Republik nur eine Minderheit von Familien diesem Ideal nahe.

Es wurde erst mit dem Ausbau des Sozialstaats und dem Wirtschaftswachstum der fünfziger und sechziger Jahre in der Bundesrepublik zu einem dominanten Modell! Allerdings gab es in Kaiserreich und Weimarer Republik starke politische Impulse, das Modell „Nur-Hausfrau und männlicher Familienernährer“ dauerhaft zu etablieren.

So kämpfte die Arbeiterbewegung für einen Familienlohn und gegen Frauenerwerbstätigkeit. Der Staat ebenso wie die Kirchen und Wohlfahrtsverbände postulierten, dass Kindererziehung vorrangige Aufgabe der Familie sei. Dem entsprechend war das Angebot an öffentlicher Betreuung für Kleinkinder wie Schulkinder, das in Deutschland, wie in den meisten anderen europäischen Ländern, im Verlauf des 19. Jahrhunderts überwiegend auf Initiative privater Wohltätigkeitsvereine entstand, eher gering und galt gegenüber der vorrangigen Zuständigkeit der Familie nur als Notbehelf.

Politischen Ausdruck fand diese Aufgabenteilung zwischen Staat und Familie in der Weimarer Verfassung, die Erziehung als „oberste Pflicht“ und „natürliches Recht“ der Eltern festschrieb. Entsprechend wurde in dem seit 1924 gültigen Reichsjugendwohlfahrtsgesetz für die Jugendfürsorge das Subsidiaritätsprinzip verankert und die Verantwortung für außerschulische öffentliche Erziehung im Vor- und Grundschulbereich den kommunalen Jugendämtern übertragen.

Die Trennung von Bildung und Erziehung hatte Folgen für die Berufsstruktur. Verantwortung für Kindererziehung lag in Deutschland vorrangig bei der Familie. Eine umfassende staatliche Verantwortung setzte erst bei der Schulbildung ein und beinhaltete hier über die Organisation als Halbtagsschule einen „reinen“, das heißt von Betreuung und Erziehung befreiten, Bildungsauftrag. Diese Trennung von Bildung und Erziehung schlug sich nicht nur in unterschiedlichen bundespolitischen Ressortzuständigkeiten für Bildung und Wissenschaft einerseits, Erziehung und Soziales andererseits sowie einem eher geringen Ausbau sozialer und haushaltsbezogener Dienstleistungen nieder. Sie hatte vor allem auch Auswirkungen auf die Berufsstruktur.

Die Verortung der Kindererziehung in der Familie und als mütterliche Aufgabe hat darüber hinaus zu einer nur halbherzigen Verberuflichung von Erziehungsarbeit geführt. Die Ausbildung von Kindergärtnerinnen erfolgte von Anfang an über ein schulisches System. Fachschulische Ausbildungen, die sich in der Regel in der Kulturhoheit der Länder befinden, sind jedoch im Unterschied zu Ausbildungen im dualen System nicht nur mit Kosten verbunden, sondern verfügen auch, anders als die bundeseinheitlich geregelten Facharbeiterausbildungen, nicht über einen Qualifikationsschutz und geregelte Aufstiegswege.

Insbesondere der Durchstieg zu akademischen Ausbildungen, zu Aufstiegswegen in Pädagogik und Verwaltung war für Kindergärtnerinnen nicht vorgesehen. Zwar kam es in der zweiten Hälfte der sechziger Jahre in der Bundesrepublik zu einer gewissen Aufwertung und Vereinheitlichung der Ausbildung von Kindergärtnerinnen und Hortnerinnen zu einer nunmehr dreijährigen Erzieherausbildung an neu eingerichteten Fachschulen für Sozialpädagogik. Gleichwohl ist der Erzieherberuf aufgrund geringer Bezahlung, einer ausgeprägten Teilzeitarbeitsstruktur und dem Fehlen einer wissenschaftlichen Fundierung der Frühpädagogik in (West-) Deutschland ein historisch tradierter, nicht-existenzsichernder und semi-professioneller Frauenberuf geblieben.

In Abgrenzung dazu sind für die im Bildungsbereich tätigen LehrerInnen schon früh akademische Ausbildungswege und über den Beamtenstatus privilegierte soziale Sicherungen entstanden. Zwar erfolgt auch die Ausbildung von Volksschullehrern und -lehrerinnen ursprünglich, anders als die der Gymnasiallehrer/innen, nicht über die Universitäten, sondern über Ausbildungsseminare, die, ebenso wie die Ausbildung der Kindergärtnerinnen, nur einen mittleren Bildungsabschluss voraussetzten. Aber nach 1945 wurde die Ausbildung der Volksschullehrer/innen aus den früheren Seminaren herausgenommen und allmählich auf Pädagogische Hochschulen übertragen. Durch den Einsatz von Politikern, Lehrerverbänden und Gewerkschaften konnte so ein Abbau von Statusunterschieden innerhalb der Lehrerschaft erreicht werden; der Unterschied zu den mit Kinderbetreuung befassten Kindergärtnerinnen blieb jedoch bestehen.