Der Solist aus Sundern

Müntefering ist immer vor Ort. „Da bin ich ganz traditionell. Politik besteht aus Tauben, Gesangsverein und Fußball“

AUS SUNDERN JENS KÖNIG

Franz Müntefering ist nicht wiederzuerkennen. Er trägt schulterlange Haare, ein weißes, offenes Hemd, blaue Jeans. Wild sieht er aus, fast schon gefährlich, wie ein Rockstar in den 70er-Jahren. Dieser Franz Müntefering ist das ganze Gegenteil des Traditionssozis, als der er bis gestern galt, des Parteisoldaten im Einheitslook, mit akkurat gescheiteltem Haar, Anzug, Schlips und festen Überzeugungen im Gepäck. Und er hat schon gar nichts von diesem sozialdemokratischen Messias, diesem neuen, gesalbten Franz Müntefering, der seit Wochen zu seinen Jüngern ins Land fährt, ihnen mit einfachen Worten die neue Welt erklärt, Agenda 2010 genannt, und ihren Schmerz damit ein wenig lindert.

Dieser Bluejeans-Müntefering hier sagt keinen Ton. Er ist stumm und wehrlos. Gert-Josef Plass könnte mit ihm anstellen, was er wollte. Müntefering ist ihm ausgeliefert. Er hängt an acht dünnen Fäden. Zieht Plass am Faden in der Mitte, nickt Müntefering mit dem Kopf. Plass könnte ihn sagen lassen, was im politischen Berlin neuerdings fast alle denken: dass er, Franz Müntefering, derzeit der wichtigstse SPD-Politiker ist, heimlicher Parteichef, De-facto-Generalsekretär und gewählter Fraktionsvorsitzender in einem, wichtiger noch als der Kanzler und SPD-Vorsitzende Gerhard Schröder. Aber Plass weiß, dass Müntefering so einen Satz nie sagen, vielleicht nicht einmal denken würde.

Plass weiß so gut wie alles über Müntefering. Er kennt ihn seit mehr als 50 Jahren. „Kann man sich gar nicht vorstellen, dass der Franz mal so aussah, was?“, sagt Plass nur und guckt auf die Marionette, die im Wohnzimmer seines Hauses in Sundern hängt. „So war der Franz wirklich“, sagt Plass’ Frau, als sie zufällig ins Zimmer kommt. Das „so“ zieht sie in die Länge. Als wollte sie sagen, früher war der Franz ganz anders. Sie wird wissen, ob das stimmt. Dieser Marionetten-Müntefering hier ist schließlich ihr Geschöpf. Sie hat ihn erschaffen. Und der echte Franz Müntefering, der aus Fleisch und Blut, der in Sundern im Sauerland aufgewachsen ist und hier über 50 Jahre gelebt hat, sitzt heute noch ab und zu im Wohnzimmer der Familie Plass. Dann plaudern sie über alte Zeiten.

„Ach was“, sagt Herr Plass, „der Franz ist so geblieben, wie er war. Nur seine Haare sind kürzer, und feine Anzüge trägt er jetzt.“

„Du musst es ja besser wissen“, entgegnet sie. „Mit uns Frauen hat der Franz früher nicht so gern geredet. Wir waren ihm zu blöd.“ Wenn die Männer, die Genossen des SPD-Ortsvereins, hier im Wohnzimmer diskutiert hätten, dann seien sich die Frauen daneben fast überflüssig vorgekommen, erzählt sie. Gert-Josef Plass sieht das naturgemäß anders, er gehörte schließlich zu dieser Herrenrunde. „Der Franz war damals schon ein Individualist“, sagt er. „Ein Freund, aber kein Kumpeltyp.“

Franz Müntefering konnte schon immer ganz gut mit sich allein sein. Er ist als Einzelkind groß geworden. Er hat lange nur mit seiner Mutter zusammengelebt. Der Vater war im Krieg. Als er aus der Gefangenschaft wieder nach Hause kommt, ist sein Sohn fast acht Jahre alt. Bis dahin hatte sich alles um den Jungen gedreht, er war der Mann im Haus, plötzlich ist der Vater das Familienoberhaupt. „Es war nicht leicht, ihn als Vater zu akzeptieren“, wird Müntefering später sagen, „aber wir haben uns arrangiert.“

Das Herz seines Sohnes erobert der Vater mit Fußball. Hier spielt das wirkliche Leben, erklärt er ihm. Jeden Sonntag laufen die beiden zehn Kilometer bis zum nächsten Sportplatz, um ein Spiel zu sehen. Fortan ist Fußball das Leben des kleinen Franz. Fritz Walter wird sein Idol. Weil Fritz Walter nicht raucht, raucht auch Franz Müntefering nicht.

Mit dem Fußball hat er von einem Tag auf den anderen Schluss gemacht. Er war 18 Jahre alt, es war das letzte Spiel in der Jugend, danach hätte er zu den Erwachsenen wechseln müssen. Es ging gegen die „Sportfreunde Neheim“ aus dem Nachbarort. „Wenn wir heute nicht gewinnen, höre ich mit dem Fußballspielen auf“, hat Müntefering gesagt. „Das machst du nie“, haben seine Freunde geantwortet. „Doch“, hielt er dagegen. Das Spiel endete 1:1. „Das war’s“, sagte Müntefering und machte Schluss. Müntefering ist ein Kopfmensch. Wenn er Entscheidungen fällt, redet er nicht lange herum.

Plass kennt viele solcher Geschichten über Müntefering. Seinen Franz. Mit ihm war er Anfang der 50er-Jahre schon zusammen Messdiener in der Pfarrgemeinde St. Johannes. Fünfzehn Jahre später treten sie, immer noch Mitglied der katholischen Kirche, in die SPD ein. Das war 1965, ausgerechnet in dem Jahr, in dem Willy Brandt seine erste Bundestagswahl verliert. Jetzt erst recht, sagen sie.

Plass und Müntefering, zwei Rote in einem schwarzen Landstrich. Sundern im Sauerland, Westfalen – 30.000 Einwohner, erzkatholisch, konservativ. Die Leute werden hier in die CDU hineingeboren. Mitte der 60er-Jahre zählt die SPD ganze 20 Mitglieder. „Manchmal dachte ich, die schlagen dich tot, wenn du zur SPD gehst“, erinnert sich Plass. Auch daran, dass sie lange suchen mussten, ehe sie ein Lokal fanden, in dem sie ihre Parteiversammlungen abhalten konnten. Sie treffen sich schließlich im „Café Lange“, im Hinterzimmer. Ihre Wahlplakate kleben sie nach Mitternacht, aber selbst um diese Uhrzeit werden ihnen noch Hunde hinterhergejagt.

„Da wirst du von ganz allein eine verschworene Truppe, auch privat“, erzählt Plass. Die jungen Sozialdemokraten haben eine Mission: Aus dem schwarzen Sundern wollen sie den konservativen Mief vertreiben. Nicht Armut oder Ungerechtigkeit treiben Plass und Müntefering in die SPD, sondern diese geistige Enge. Im Theater darf Sartre nicht gespielt werden, weil er Kommunist ist.

40 Jahre später sieht die Welt auch in Sundern freundlicher und ein bisschen roter aus. Plass läuft durch die Stadt. Auf der Straße, beim Bäcker, im Restaurant, überall wird er gegrüßt. Plass ist 1999 fast zum Bürgermeister gewählt worden. Im Stadtrat jedoch sitzt immer noch kein direkt gewählter Sozialdemokrat. Es ist nicht leicht, Plass auf den Fersen zu bleiben. Er trägt Turnschuhe und macht darin Riesenschritte. Um seinen Hals hängt ein roter Schal. Der berühmte rote Schal von Müntefering. „Hat mir Franz geschenkt“, sagt Plass.

Plass redet ununterbrochen. Franz hier, Franz da. Hier, diese Fußgängerzone, die hat die Stadt Franz zu verdanken. Dort, die Firma Pingel, da hat Franz als Kaufmann gearbeitet. Und schauen Sie noch mal hier, der langjährige Bürgermeister Tigges, mit dem hat Franz sich schon vor 25 Jahren angelegt, weil der CDU-Mann einem jungen Lehrer wegen angeblicher Klassenkampfparolen die Anstellung im Gymnasium verweigert hat.

Gert-Josef Plass war bis vor einem halben Jahr Studiendirektor am Gymnasium in Sundern. Heute ist er Rentner. Plass hat das bekommen, was Müntefering auch gern gehabt hätte: einen Studienplatz. Plass studiert in Köln und Münster Sport, Müntefering geht in Sundern zur Volksschule. Aufs Gymnasium darf der junge Franz nicht. Es würde Geld kosten, die Eltern wollen lieber ein Haus bauen. „Unser Sohn wird auch so ein guter Katholik“, sagen sie. Mit 14 beginnt er eine Lehre als Industriekaufmann.

Franz Müntefering arbeitete dagegen an, nur Volksschüler zu sein. Sein Vater hatte nie ein Buch in der Hand gehabt, außer dem Gesangsbuch in der Kirche. Er war Knecht auf einem Bauernhof, später Fabrikarbeiter. Ein praktischer Mann. Einer, der den Garten umwühlte. Sein Sohn aber hatte mit 18 Jahren schon die Erfahrung gemacht, dass Leute an ihm vorbeizogen, von denen er meinte, sie könnten es auch nicht besser als er. „Das ist für mich das Tiefste geworden, was mich bewegt“, sagt Müntefering heute. „Keiner soll oben oder unten sein, keiner Herr oder Knecht.“

Als Plass vom Studium nach Sundern zurückkommt, spürt er sofort, dass sich der Franz verändert hat. Aus ihm ist ein Gebildeter geworden, ein Wortführer, ein Sich-Einmischer. „Franz brauchte kein Studium und keinen Professor. Was andere nur unter Zwang machten, tat er aus freien Stücken“, erinnert sich Plass. „Er las, las und las.“ Sartre, Dostojewski, Freud, Kafka, alles, was ihm in die Finger kam. Seine Lieblingsgeschichte ist von Albert Camus. Sie handelt vom Maler Jonas. Auf einer Leinwand, die er bearbeitet, steht nur ein einziges Wort. Man kann nicht genau erkennen, ob es „solidaire“ heißt oder „solitaire“ – solidarisch oder einsam? Für Müntefering steckt darin das ganze Geheimnis des menschlichen Lebens.

Müntefering kommt in der SPD groß raus. Er stellt jetzt immer weniger Fragen. Er macht lieber klare Ansagen. „Hör mal, Gert, morgen wirst du Fraktionsvorsitzender“, sagt er seinem Freund am Telefon. Und einen Tag danach wird Plass Vorsitzender der SPD-Fraktion im Stadtrat. Müntefering selbst wird Unterbezirksvorsitzender, Bezirkschef, Bundestagsabgeordneter in Bonn, Minister in Düsseldorf, Minister in Berlin, SPD-Generalsekretär, Fraktionschef. Jetzt ist er an allen vorbeigezogen. Aber bis heute kehrt er nach Sundern zurück, wenn einer der heimischen Genossen Geburtstag feiert. „Einmal Sauerländer, immer Sauerländer“, sagen sie hier in der Gegend.

Müntefering reicht genau eine Stunde im Flugzeug auf dem Weg zu einer SPD-Regionalkonferenz, um sein ganzes Leben zu erzählen. Er teilt es in drei Teile, der Einfachheit halber. „Bis 18 habe ich Fußball gespielt, zwischen 18 und 25 habe ich gelesen, seit ich 25 bin, mache ich Politik.“

So liebt er es. Kurze Sätze, harte Fakten, einfache Wahrheiten. Schluss. Er war Klassensprecher, Pfarrjugendführer, Kapitän der Fußballmannschaft, Jungsozialist. Er war schon immer einer, der sich gern eingemischt hat. Und doch war es eine Zäsur, als er sich mit 25 Jahren für die Politik entscheidet. Da kennt er bereits das praktische Leben, geht fünfmal die Woche auf Arbeit und trägt als junger Familienvater Verantwortung. Als Müntefering seinen Aufnahmeantrag beim SPD-Ortsvereinsvorsitzenden abholt, fällt der aus allen Wolken. „Ich hatte mit niemandem vorher darüber geredet“, erzählt Müntefering. Für seine Eltern war es, als ginge er in den Untergrund.

Nur ein einziges Mal wollte Müntefering aus der Politik aussteigen. Das war 1982, in der Endphase der Regierung von Helmut Schmidt. Die SPD liebäugelte mit der Opposition. Genau dahin fiel sie ein paar Monate später dann ja auch. Müntefering war von seiner Partei frustriert. „Ich fühlte mich ohnmächtig“, erinnert er sich. „Damals begriff ich endgültig, dass es besser ist, im Geschäft zu bleiben und mitzumischen. Ich habe keine Lust auf Opposition.“

Müntefering sitzt kerzengerade auf seinem Platz in Reihe 9. Während des ganzen Fluges bewegt er sich nur ein einziges Mal, er trinkt einen Schluck Saft. Der Fraktionschef ist dünner geworden im letzten Jahr, er treibt wieder Sport, er muss 18 Stunden am Tag fit sein. Die Krise seiner Partei verlangt ihm alles ab, sogar körperliche Askese. Sein Gesicht wirkt dadurch noch strenger. Von seiner Nase herab ziehen sich zwei tiefe Falten Richtung Mund. Die Oberlippe ist breiter als seine Unterlippe, sie kippt links und rechts an den Seiten steil nach unten. Müntefering sieht immer so aus, als habe er ständig nur Ärger. Er blickt jetzt misstrauisch auf das Aufnahmegerät vor seinem Gesicht.

Müntefering erzählt nicht gern von früher. Aus seinem Privatleben schon gar nicht. Und über seinen Bundeskanzler verliert er erst recht kein einziges Wort. Manche Sozialdemokraten in Berlin behaupten, er sage sich selbst morgens vor dem Spiegel nicht die ganze Wahrheit, aus Angst, es könnte irgendetwas durchsickern.

Müntefering lächelt kurz, als die 60 Minuten Verhör im Flugzeug beendet sind. Die Maschine ist gelandet. Er ist erleichtert, wieder festen Boden unter den Füssen zu haben. Das Wolkige liegt ihm nicht. Müntefering springt aus dem Sitz. Mit fünf schnellenSchritten ist er die Gangway herunter.

Der SPD-Fraktionsvorsitzende hetzt der Zeit hinterher. Die Krise seiner Partei ist ihm immer ein paar Momente voraus. Heute jagt er sie in Koblenz. „Fraktion in der Region“ heißt die Veranstaltung. Dabei ist Müntefering immer vor Ort. „Politik“, findet er, „besteht aus Tauben, Gesangsverein und Fußball.“ Er mag seine Partei. „Darin bin ich traditionell.“ Wie die SPD aussähe, wenn sie eine Frau wäre? „Ein bisschen sentimental, sehr schön und liebenswert.“

Und arg zerzaust im Moment. Von der Öffentlichkeit ausgebuht. Demotiviert. Der Einzige, der die Partei aufrichten kann, ist Müntefering. Im eichegetäfelten Saal der Rhein-Mosel-Halle in Koblenz liefert der neue sozialdemokratische Heilsbringer eine eindrucksvolle Vorstellung seiner besonderen Kunst: klare Worte, bittere Wahrheiten, persönliche Erfahrungen. Die Agenda ist notwendig, weil sie wahr ist. Keine soziale Gerechtigkeit ohne harte soziale Reformen. Ja, ja, sagt er, ich habe früher auch anders geredet.

Wie er so da vorn auf der Bühne steht, wirkt Müntefering viel kleiner als im Fernsehen. Aber für die Genossen im Saal ist er der Größte. Bei ihm fühlen sie sich, anders als bei ihrem Parteivorsitzenden, aufgehoben. Ihm vertrauen sie. Bei ihm wird die komplizierte Welt plötzlich wieder einfach und übersichtlich: Fortschritt oder Stillstand. Gestalten oder ohnmächtig sein. Regierung oder Opposition. Wir oder die. Müntefering ist ein Arbeiter. Einer, der den Garten umwühlen kann.

„Bis 18 habe ich Fußball gespielt, zwischen 18 und 25 habe ich gelesen, seit ich 25 bin, mache ich Politik.“ Ein Leben, drei Teile

„In dieser Klarheit bräuchten wir eine Musterrede“, schwärmt der Vorsitzende des SPD- Ortsvereins von Koblenz nach Münteferings Auftritt. Die Veranstaltung bekommt jetzt religiöse Züge. „Du hast uns so viel Energie gegeben“, ruft eine junge Frau ins Mikrofon und denkt dann schon ganz bang an die Kommunalwahlen in Rehinland-Pfalz am 13. Juni. „Lasst uns das, was der Franz gesagt hat, ins Land tragen.“

Müntefering sieht das gelassen. Er kann zwar nicht übers Wasser gehen, aber er versteht seine Genossen. Er wisse genau, was die bewege, sagt er nach der Veranstaltung, als er mit ein paar seiner Getreuen in der Hotelbar sitzt. Er bläst den Rauch seines Zigarillos genüsslich in die Luft. Das gibt seinen seinen Sätze etwas Gemütliches. „Ich bin Katholik“, sagt er. Und Parteien seien nun mal die säkulare Form der Kirche. Denen, die an sie glauben, dürfe man nicht alles nehmen, erst recht nicht, wenn sich alles um sie herum verändere.

Natürlich hat sich auch in Sundern herumgesprochen, dass ihr Franz, der mal als der Ruhigmacher der SPD galt, plötzlich der Aufmischer der Partei sein soll, der von sozialen Härten genauso selbstverständlich redet wie von Innovation und Nanotechnologie. Nicht wenige hier nehmen ihm das mittlerweile übel, sie interessiert es herzlich wenig, ob sie ihren Franz dafür in Koblenz feiern. Sabine Metzler zum Beispiel, die Lokalredakteurin der Westfälischen Rundschau und gleichzeitig SPD-Ortsvorsitzende ist, woran sich in Sundern offenbar keiner stört. Diese Frau Metzler also glaubt, dass der Franz für viele im Ort nicht mehr die soziale Gerechtigkeit verkörpere. Auf einem Gewerkschaftstreffen hätten sie ihn neulich sogar mit Eiern beworfen. „Die Leute in Sundern kennen den Franz gut“, sagt Sabine Metzler, „aber sie kennen ihn nicht so, wie er jetzt ist.“

Und plötzlich ist es wieder da, Sundern, das miefige, erzkatholische Provinzkaff. Die Leute zerreißen sich immer noch das Maul darüber, wie ihr Franz damals, als er nach Bonn gegangen ist, seine erste Frau zurückgelassen hat, angeblich weil sie ihm intellektuell nicht mehr gewachsen war. Oder dass er sich um seine ältere Tochter, die im Ort in einer Elektrofirma arbeitet, kaum noch kümmere, im Gegensatz zu seiner jüngeren Tochter Mirjam, der Schriftstellerin. Ist das etwa sozial gerecht?, lästern sie.

Dazu will Gert-Josef Plass, sein Freund, öffentlich lieber nichts sagen. Aber ob Franz Müntefering die längste Zeit der westfälische Bilderbuchsozi gewesen ist, dazu hat er schon eine Meinung. „Franz ist immer noch ein Linientreuer“, glaubt Plass. Nur ein einziges Mal in seinem Leben habe er die Seiten gewechselt: bei der Agenda 2010. „Das rechne ich ihm hoch an.“ Plass findet die Reformen notwendig.

Als er noch Studiendirektor war, hat Plass seinen Schülern immer gesagt, sie sollten raus in die Welt, fliegen lernen. Müntefering hat das Fliegen gelernt, wenn auch spät. Kaum einer traute ihm das zu. Müntefering hat begriffen, dass man nicht verteilen kann, was nicht mehr da ist. „Das war die schwerste Entscheidung seines Lebens“, ist Plass überzeugt. „Diese Zumutungen für die kleinen Leute zu akzeptieren. Wahrscheinlich hat er monatelang darüber nachgedacht.“ Und dann hat der Kopfmensch Franz Müntefering eine Entscheidung gefällt und sie kompromisslos durchgesetzt.

So gesehen ist Müntefering ein Parteisoldat geblieben. Er geht die Wege, die andere ihm aufzeigen, aber das konsequent. Er sucht nicht selbst nach neuen Wegen. Müntefering ist keine Denkfabrik. Die Lücke, die der Parteivorsitzende lässt, füllt er einfach mit Arbeit.

Kann so einer mal SPD-Chef werden? Müntefering hat auf die Frage jahrelang geantwortet, dass er sehr genau wüsste, was er könne und was nicht. Ein Bewunderer von „Katsche“ Schwarzenbeck sei er, hat er hinzugefügt, jenes legendären Ausputzers von Bayern München, der seinem Kapitän Franz Beckenbauer den Rücken freihielt. Auf dieses Rollenverständnis kann der Kapitän Gerhard Schröder hundertprozentig vertrauen.

Andererseits ist Müntefering der Einzige in der SPD-Führung, der viel Macht hat, trotzdem beliebt ist und dem Parteichef deswegen widersprechen darf. So einem ist die Chefrolle nicht mehr unangenehm, nur weil er aus kleinen Verhältnissen stammt. Falls Schröder mal nicht mehr Kanzler ist und die SPD sich 2006 endgültig auf die Oppositionsbänke regiert hat, könnte Müntefering ihr neuer Vorsitzender werden, als starker Mann des Übergangs, solange bis einer der Jungen, vielleicht Sigmar Gabriel, soweit ist. Allein Müntefering ist in der Lage, die alte und die neue SPD miteinander zu versöhnen. Er bringt schließlich auch das Kunststück fertig, gleichzeitig Fan von Borussia Dortmund und Schalke 04 zu sein.

So einer kann sich die Welt schöner machen, als sie ist. Mit seiner zweiten Frau wohnt der 64-Jährige in Berlin, Wilhelmstraße, Plattenbau. Beide vermissen das Grüne, die Natur. „Aber was soll’s“, sagt Müntefering. „Wir machen das Fenster auf und lassen den Frühling rein. Dann stellen wir uns einfach vor, der Lärm der Straße wäre das Rauschen des Meeres.“