: Latente Hysterie
Grell und verdreht, gelehrt und erotisch: Das Bucerius Kunstforum in Hamburg zeigt Gemälde, Graphiken und Skulpturen des Manierismus. Die faszinierende Kunstströmung umfassend abzubilden, gelingt der Stiftung, die so gern ein richtiges Museum wäre, nicht
VON HAJO SCHIFF
Wie auf einer Bühne mit gerefften roten Vorhängen wird es präsentiert: Ein lüsterner Faun wird von einer leuchtend blau gewandeten Figur brutal aus einem Bett getreten. Doch der Kreis von dekorativ wirbelnden, überwiegend nackten Staffagefiguren im Vordergrund ist deutlich wichtiger als das mythisch-allegorische Geschehen. „Herkules stößt den Faun aus dem Bett der Omphale“, 1585 gemalt vom Venezianer Tintoretto, ist in Thematik, Bildaufbau und Farbigkeit ein typisch manieristisches Gemälde und eines der Hauptwerke der Ausstellung „Sturz in die Welt“.
Ohne traditionelle Trennung in verschiedene Malereischulen sind Bilder aus Italien und Flandern, aus Prag und Madrid nach Stichworten geordnet. Das ist problematisch: Manche Allegorien und Bildfindungen des Manierismus sind so komplex, dass sie sich kaum eindeutig entschlüsseln lassen. So kann das Bild des Antwerpener Kleinmeisters Gilles Moestaert sowohl eine Darstellung mit Maria und Jesus zu „Ruhe auf der Flucht nach Ägypten“ sein, die Ansicht eines flämischen Haushalts oder gar eines Bordells: manieristische Mehrdeutigkeit in einer Zeit, in der Otto van Veen den Kampf der Tugenden und Laster als Kindergartengetobe kleiner Putten darstellt.
Zwischen der in unwirklichen Farben mystisch überhöhten Verkündigung von El Greco und der erotisch aufgeladenen Diana, die Bartholomäus Spranger um 1600 zeitgleich für den Prager Hof Kaiser Rudolphs II. malte, wird hier ein verwirrend vielfältiger Reigen von schönen Bildern gezeigt. Die Ausstellung wäre um so mehr zu loben, würde sie nicht ihren Ansatz stark überziehen: Dies kann keine Ausstellung über den Manierismus in Europa sein, wie es der Untertitel großartig verkündet. Dazu bräuchte es größeren Aufwand – und bedeutendere Werke.
Nein, was da in Hamburg gezeigt wird, ist vielmehr eine Auswahl von mehr oder weniger manieristischen Gemälden, Graphiken und Skulpturen aus verschiedenen europäischen Produktionsorten, die aber alle aus dem Besitz eines einzigen Museums stammen: dem Szépmüvészeti Múzeum in Budapest. Auch der Titel bleibt rätselhaft. Zwar sind neben krassen Farben und jähem Licht überdehnte Formen und stürzende Figuren typisch für den Manierismus – aber eher als Sturz aus der ehemals fest gefügten Welt, als hinein in diese.
Außer Göttern und Engeln kann ja kaum etwas von außen in diese Welt hineinstürzen, am ehesten noch eine überraschende Katastrophe. Und genau die scheint in den Bildern des zeitlich und formal schwer abzugrenzenden Manierismus zu lauern. Es ist der Stil, der die passenden Bilder liefert – für eine Welt, die nach den großen Hoffnungen, die auf das Jahr 1500 gesetzt wurden, sehr bald aus den Fugen geriet.
Das erläutert hier allein der Katalog: Nicht nur die gemalte Bildtafel, ganz Europa verliert im 16. Jahrhundert sein zentralperspektivisch gesetztes Zentrum. Neue Kontinente, nie geahnte Kulturen und Lebensweisen werden bekannt, das Weltbild dynamisiert sich zu einer Erde, die als ein Planet unter vielen durch das Weltall saust, Autoritäten werden in Revolution und Reformation gestürzt, neue Seuchen und Kriege wüten. So steckt in der Bilderflut weit mehr als nur eine formal veränderte Manier des Malens, wie die teilweise mit seltsamen Vorbehalten argumentierenden Ausstellungstexte gänzlich apolitisch erläutern.
Die Klassiker der Hochrenaissance, Raffael und Michelangelo, weisen bereits etliche Elemente des Manierismus auf. Aber der Generation danach war klar: Diese Künstlerheroen würden keinesfalls zu übertreffen sein. So bildete sich an den zahlreichen adeligen Höfen eine gelehrte Kunst des lustvollen Zitierens und der kleinen raffinierten Pointen heraus, mit denen noch halbwegs neue Bilder generiert werden konnten.
Die Kunstkritik – selbst ein Kind des Manierismus – hat das seit langem als Dekadenz, Oberflächlichkeit, Effekthascherei und Gefallsucht angeprangert. Und schon weit vor den Nazis wurde solcher Stil als „ausgeartet“ bezeichnet.
Doch es gibt solche Perioden regelmäßig: Ähnliche Effekte individualisierten Zitierens kannten die Spätromanik, die Spätgotik, das Rokoko, die Romantik, der Expressionismus und ganz sicher auch die gegenwärtige Kunst. Aber nur die Spätrenaissance, etwa zwischen 1520 und 1610, hat aufgrund der weiten Verbreitung dieser Tendenz den Epochennamen Manierismus erhalten – klar dass man in jener Zeit auch Gegenströmungen finden könnte.
Manierismus ist mehr eine Stimmung als ein verbindlicher Stil. Aber seine antiklassische Haltung, die exzessive Individualität und Selbstreflexivität, die latente Hysterie, die freie Farb- und Formwahl, das verrätselnde Zitieren aus einem Überfluss an Möglichkeiten: All das erscheint beim Mangel an verbindlichen Ordnungen auch heute sehr aktuell. Doch das vermittelt die konservative Ausstellung eher weniger, mit ihrer teils etwas zufälligen Hängung und strikt beschränkten Auswahl. Ohne die Lektüre des umfangreichen Katalogs erfährt das Publikum zu grundlegenden Fragen und dem eigentlichen Zweck, zum jetzigen Zeitpunkt in einem ehemaligen Bankpalast am Hamburger Rathausmarkt Manierismus zu zeigen, nur wenig. Das Begleitprogramm bietet dafür einiges, darunter erstmals mehrere zeitbezogene Konzerte.
Trotz umfangreichem Serviceangebot und der jüngsten Erweiterung um ein zweites Stockwerk mit Lounge, Kino, Atelier und Konzertsaal sowie zusätzlichen 180 Quadratmetern Ausstellungsfläche: Die private Bucerius-Stiftung stößt an Grenzen, wenn sie großes Museum spielen will. Bisher füllten die Ausstellungen als qualitätvolle Sonderschauen einer MittagsPausenKunstHäppchenHalle im touristischen Herz der Stadt eine Lücke in der Hamburger Museumslandschaft. Mit dem jetzt beanspruchten Vollprogramm wird hier eine unnötige Konkurrenz aufgebaut, die beim Publikum punkten mag, im Anspruch aber stark überdehnt ist. Insofern ist diese erste im neuen Rahmen gezeigte Ausstellung über eine der faszinierendsten Epochen der Kunstgeschichte – trotz schöner Bilder – eine Enttäuschung.
bis 11. Januar, Bucerius Kunstforum, Hamburg; www.buceriuskunstforum.de