Wie Nähe entsteht

Die stille und nachhaltige Umtriebigkeit des Lyrikers und Herausgebers Johann P. Tammen wurzelt in der nordfriesischen Landschaft

von Tim Schomacker

Die Antwort überrascht. Es gibt da diese „Angst vor dem hohen Ton“, sagt Johann Tammen, mit der sich die deutschsprachige Lyrik seit Jahrzehnten herumschlage. Liest man die knappen, sich langsam entwickelnden Gedichte des 1944 im friesischen Hohenkirchen geborenen Autors, springt dieses Problem nicht ins Auge. Und doch: Fragt man ihn, wie sich viele Jahre der Auseinandersetzung mit der „Poesie der Nachbarn“ abgelagert haben, erfährt man eben dies: Die Ironie, die Lakonie der eigenen Texte „nachzufärben“, sagt er, da sei ihm „Mut zugewachsen“.

Aufgewachsen „zwischen zwei Dörfern“, in einer Landschaft, wo der Blick mangels attraktiver Fernsicht nach oben geht – oder nach unten. „Der Blick haftet am Boden das Gras / wächst lautlos winters in gelben Kartons die erdig / schmecken aber den Mond stell ich mir vor als / wandweißes Schweigen“. Wo in der Ferne das Meer rauscht, hat Johann P. Tammen seinen „Sprachvorrat, den gesicherten Fundus“ an Worten, Bildern und Motiven angelegt.

Doch redet und schreibt er nicht dem Idyll das Wort, genauso wenig ist er – der Landschaft motivisch verbunden – ein Landschaftsdichter. Das zentrale Gedicht des Bandes Wetterpapiere ist programmatisch „Landschaften ohne Rahmen“ untertitelt. Der literarische Organismus treibt seine Wurzeln in alle Himmelsrichtungen fort. Dies allein ermöglicht, immer wieder, schreibend zurückzukehren. Dass präzise Nah-Beobachtungen auch immer der Weite bedürfen, hat Tammen schon früh erfahren. Beim nicht eben wohl gelittenen Volksschullehrer, der des Nachts die Klasse auf dem Schulhof versammelte, um ihnen erste astronomische Kenntnisse zu vermitteln. „Ich habe danach meinen Drachen nicht einfach nur steigen lassen, wie viele Kinder das taten; ich habe Zettel mit Wörtern, kleinen Botschaften an die Schnur gebunden.“

Diese Öffnung hat sich Tammen nicht nur als Lyriker angeeignet. Seit den späten 60er Jahren, seine ersten Lyrikbände waren gerade erschienen, ist Tammen Redakteur der Zeitschrift die horen, die er in der Nachfolge des 1994 verstorbenen Kurt Morawietz herausgibt. Neben dem Mut ist ihm auch einiges an organisatorischer Arbeit zugewachsen über die Jahre. Seine Zurückhaltung ist dabei nie offensives Understatement.

Nicht allein inhaltlich, sondern auch atmosphärisch wurden die horen zu einem herausragenden literarischen Zeitschriftenprojekt. Ende der 80er Jahre kam die gleichnamige Edition hinzu. Gemeinsam mit dem Lyriker Gregor Laschen entwickelte er das Projekt, das mehr war als eine Buchreihe: „Poesie der Nachbarn“. Tammens Credo findet sich im Gedicht „Den Fährleuten in ferner Nähe“: „Das Lampenlicht umstrahlt die Spur der fremd / verwandten Sprachgestalt: lies sie lese.“ Das ist Johann P. Tammens kategorischer Imperativ: angesichts der bestehenden Fremdheit Verwandtschaftlichem nachzuspüren. Knapp 20 „Werkstattberichte“ dokumentieren inzwischen literarische Begegnungen mit „kleinen Literaturen“: Island, Finnland, Makedonien. Bar jeder Wortschäumerei konzentriert sich die „Poesie der Nachbarn“ im Dialog auf die Eigenheiten von Wörtern, Klängen und Semantik. „Als eine Art erster Fährmann“ fungiert ein Interlinearübersetzer. Gemeinsam mit den europäischen KollegInnen arbeiten die hiesigen LyrikerInnen – darunter Uwe Kolbe, Brigitte Oleschinski oder Oskar Pastior – am Dichtungstransport.

„Wie Nähe entsteht“ in der intensiven Auseinandersetzung, fasziniert Tammen bis heute. Er ist „überzeugt, die Sprache des Gedichts kann man jemandem vom Gesicht ablesen“. Er habe einmal mit dem dänischen Lyriker Ivan Malinowski stundenlang nach dem deutschen Namen einer speziellen Fliederart gesucht. „Wir gingen durch den Garten des Künstlerhauses Edenkoben. Plötzlich zeigte er auf diesen Flieder und sagte: ,Das ist er; riech doch mal dran, dann wird dir das Passende einfallen‘.“

Aller Anstrengung zum Trotz ist dies kein Problem für den Lyriker Tammen. Seine Verse verweisen auf eine Art synästhetischer Utopie. Immer wieder Geschmäcker, Gerüche. Wenn er in Wetterpapiere schreibt: „es braucht mehr / Worte als Farbe all dies zu zeigen“ meint das keinen Grundzweifel gegenüber der Sprache. Es ist die leise Lust an literarischer „Grabungstechnik“. Wichtig sei, literarische „Erinnerung erst aufkommen zu lassen. Und dann zu prüfen: Hält das noch Stand?“ Wenn ja, entstehen karge, mitunter sperrige, wunderschöne „Textkörper“.