: Machtkampf in Nadschaf
In der irakischen Stadt wollen radikale junge Schiiten Groß-Ajatollah Sistani aus dem Land vertreiben. Bei den Auseinandersetzungen geht es um die Vorherrschaft über die heiligen Stätten der Schiiten
KUWAIT rtr ■ Zwischen rivalisierenden irakischen Schiiten-Gruppen ist es in der heiligen Stadt Nadschaf offenbar erneut zur Konfrontation gekommen, nachdem schon am Donnerstag der Geistliche Abdul Madschid al-Choei von seinen Gegnern ermordet wurde. Das Haus des Groß-Ajatollah Sistani, dem derzeitigen geistlichen Oberhaupt der Schiiten im Irak, wird seit gestern von „bewaffneten Schlägern“ und „Hooligans“ belagert, berichtete dessen Berater Abulkasim Dibadschi gestern. „Sie haben Sistani gesagt, entweder er verlässt Irak innerhalb von 48 Stunden, oder sie greifen an.“ Aus dem Kreis der Anhänger Choeis heißt es jedoch, dass Sistani den Belagerern inzwischen entwichen sei.
Die Menge soll zur Dschimaat-e-Sadr-Thani-Gruppe gehören, die auch für den Mord an Abdul Madschid al-Choei verantwortlich gemacht wird. Ihr Anführer ist der 22-jährige Moktada Sadr, Sohn des von Saddam Hussein 1999 ermordeten Vorgängers von Sistani, Groß-Ajatollah Mohammed Bakr al-Sadr. Dibadschi wirft dem jungen Radikalen vor, die Macht an sich reißen zu wollen. „Moktada will die heiligen Stätten des Irak unter seine Kontrolle bringen“, so Dibadschi.
Augenzeugen berichteten inzwischen, dass Choei an der wichtigsten der heiligen Stätten Nadschafs, am Schrein des Imam Ali, einem Schwiegersohn des Propheten Mohammed, erstochen und erschossen wurde.
Die Angreifer riefen zuvor „Lang lebe Moktada!“ und „Choei muss sterben!“. In Nadschaf herrsche der totale Terror. „Der Mob tötet und raubt nach Belieben“, heißt es im Umkreis von Choei. Hintergrund der Gewalt ist die Absicht radikaler Gruppen, wieder einen ortsansässigen Iraker als geistiges Oberhaupt der Schiiten an Euphrat und Tigris zu küren. Nadschaf könnte nach Ansicht von Experten wie dem Kleriker Mohammed Bakir Mohri nach dem Sturz von Hussein zum Zentrum der schiitischen Welt werden. Aufgrund ihrer religiösen Bedeutung haben sich die US-Truppen aus der Stadt bisher weitgehend fern gehalten, spekulieren aber auf Kooperation mit US-freundlichen Kräften unter den Geistlichen.
Als solcher war der ermordete Choei bekannt. Er war erst jüngst aus dem Exil ins Land zurückgekehrt. Es wurde sogar spekuliert, Choei sei von der US-Armee nach Nadschaf gebracht worden. Choei konnte 1991 nach der Niederschlagung des schiitischen Aufstands durch Saddam Hussein aus dem Irak fliehen. Sein Vater, der damalige Groß-Ajatollah, hatte weniger Glück. Er wurde von dem Regime nach Bagdad entführt und gezwungen, im Fernsehen Hussein in die Unterstützung der Schiiten zu versprechen. Ein Jahr später starb er im Hausarrest in Nadschaf. Sein Nachfolger wurde Mohammed Bakr al-Sadr. Der jetzige Groß-Ajatollah, Ali Husseini Sistani, stand bis zum Einmarsch der US-Truppen ebenfalls unter Hausarrest.
Er weigerte sich jedoch, die einrückende Kriegskoalition zu begrüßen, und rief die Schiiten auf, neutral zu bleiben. Trotz dieser Haltung, glauben Choeis Anhänger, werde Sistani angefeindet, weil er iranischer Abstammung sei.