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Archiv-Artikel

Die Schüsse hallen bis heute nach

Vor 5 Jahren versuchten aufgebrachte Kurden, das israelische Generalkonsulat zu stürmen. Sicherheitsbeamte erschossen vier DemonstrantInnen, eine davon war die 18-jährige Selma. Ihre Mutter würde heute mit ihren Töchtern wieder die Botschaft besetzen – und hält Israel für einen „kaltblütigen Staat“

VON WIBKE BERGEMANN

Nein, Angst um ihre Kinder habe sie keine gehabt, damals am Morgen des 17. Februar 1999. Ayse Alp fuhr mit ihren Töchtern Selma, Emine und Gülseren nach Berlin-Schmargendorf, um vor dem israelischen Generalkonsulat zu demonstrieren.Wie viele kurdische Familien hatten die Alps im Fernsehen die Verhaftung Abdullah Öcalans verfolgt, als sich das Gerücht verbreitete, der israelische Geheimdienst habe bei der Entführung des Kurdenführers geholfen. „Alle Kurden sind auf die Straße gegangen, keiner ist zu Hause geblieben“, beschreibt Ayse Alp die Stimmung.

Schon am Tag zuvor war Alps älteste Tochter Selma bei der Besetzung der griechischen Botschaft am Wittenbergplatz dabei. Es kam zu Sachschäden, verletzt wurde aber niemand. Dass sich dann, am zweiten Tag, die Wut der Berliner Kurden gegen das israelische Konsulat richtete, habe nichts mit Antisemitismus zu tun, versichert Ayse Alp. Doch dann sagt sie den Satz: „Die Israelis halten sich für das auserwählte Volk. Israel ist ein gefährlicher, kaltblütiger Staat.“

Gegen Mittag versuchte damals die teilweise mit Knüppeln und Stangen bewaffnete Menge, das Konsulatsgebäude zu stürmen. Bei der Rangelei mit der Polizei wurden 25 Polizisten verletzt. Dennoch gelang es einem Teil der Demonstranten, über den Zaun zu klettern und in das Gebäude einzudringen. Mutter Alp stand am Rande der Kundgebung, als sie die Schüsse hörte. „Mir brannte das Herz“, sagt sie. „Ich dachte nicht an meine eigenen Kinder, sondern einfach an die Jugendlichen weiter vorne.“

Vier Kurden wurden von den israelischen Sicherheitsleuten getroffen. Die 18-jährige Selma stand auf der Treppe zum Konsulat, als eine Kugel sie in den Hinterkopf traf. Ayse Alp sah ihre Tochter auf dem Boden liegen, doch die Polizei hielt sie zurück. Selma starb im Krankenhaus.

Heute jährt sich zum fünften Mal die Schießerei vor dem israelischen Generalkonsulat. Der beispiellose Vorfall drohte damals die diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Deutschland zu beeinträchtigen. Die Sicherheitsleute wurden schnell nach Israel ausgeflogen: Weil die Schüsse auf israelischem Territorium abgefeuert wurden, genossen die Konsulatsangehörigen diplomatische Immunität. Israel bot zwar eine Vernehmung der Sicherheitsmänner an, doch nur unter der Bedingung, dass ihre Anonymität gewahrt bliebe. Darauf ließen sich die deutschen Gerichte nicht ein. So standen die beiden Todesschützen nie vor einem Richter, weder als Angeklagte noch als Zeugen.

Immer wieder beklagten die Verteidiger der Kurden, dass es zur Verschleppung der Ermittlungen gekommen sei. Die israelische Seite hätte internationale Gepflogenheiten bei Rechtshilfeersuchen missachtet, die deutschen Ermittler hätten offenbar diplomatisch heikle Verhöre vermeiden wollen. Monate später stellte ein Berliner Untersuchungsausschuss schließlich fest, dass die Version der Israelis, die Beamten hätten in Notwehr gehandelt, nicht haltbar sei.

Ganz anders die Lage für die an der Erstürmung beteiligten Kurden: Gegen rund 50 von ihnen wurde ermittelt, mehr als 30 standen vor Gericht. Die Jugendlichen wurden zu Freizeitarbeit verurteilt, die Erwachsenen erhielten neben Freisprüchen Bewährungsstrafen von bis zu zwei Jahren wegen Landfriedensbruchs. Zudem sollten alle Verurteilten in die Türkei ausgewiesen werden. Erst mit einem Urteil des Verwaltungsgerichts konnten die Ausweisungen gestoppt werden, da den Kurden im Fall der Rückkehr in die Türkei Schlimmes drohte.

Auch Ayse Alp sei von türkischen Beamten verhört und gefoltert worden, als sie den Leichnam ihrer Tochter in die Türkei begleitete, sagt sie. Alp sitzt in dem Kurdenzentrum Mala Kurda am Kottbusser Tor. An den Wänden hängen Bilder von Abdullah Öcalan und den vier Erschossenen. Alp ist erst 59, doch die tief liegenden Augen und das eingefallene Gesicht lassen sie älter aussehen. Wenn sie über Politik spricht, ist sie kaum zu stoppen. Ihre Bewunderung gilt dem einstigen PKK-Führer Abdullah Öcalan. Alp bereut es nicht, 1999 mit ihren Töchtern zum Konsulat gefahren zu sein: „Es geht ja nicht nur um Selma.“ Für Alp gehören Opfer zum politischen Kampf: Einer ihrer Söhne hatte sich dem bewaffneten Kampf in der Türkei angeschlossen, sagt Alp. Die beiden anderen Söhne seien als PKK-Sympathisanten gefoltert worden.

„Sollte Öcalan im Gefängnis etwas zustoßen, werden wir wieder demonstrieren und auch Einrichtungen besetzen“, sagt Alp. „Die Leute leben noch immer mit geballten Fäusten in der Tasche“, meint auch der Berliner PDS-Abgeordnete Giyas Sayan, der selbst kurdischer Abstammung ist. Sayan hatte kurz nach der Schießerei einen runden Tisch mit initiert, um im ersten Monat nach der Schießerei Spannungen zwischen der jüdischen und der kurdischen Gemeinde abzubauen und, wie er sagt, „Rachegefühlen“ vorzubeugen. Unter den Berlinern Kurden stieß er damit auf begrenztes Verständnis. Wegen seiner „Zusammenarbeit mit Juden“ sei er bedroht worden. Seine Gegner hätten sogar dazu aufgerufen, ihm die Hände abzuhacken.

Sayan ist froh, dass es nach der Schießerei keine Übergriffe von Kurden auf Juden gegeben hat. Der Antisemitismus unter Kurden werden immer wieder auf Demonstrationen deutlich. Aber: „80 Prozent der Migranten in Berlin kommen aus Ländern, in denen Bürgerkrieg herrscht, hier ist es friedlich. Das ist doch ein Erfolg.“